Stumme Zeugen
guten Blick auf den Hügel mit der Ranch an der nördlichen Seite der Weide.
In jungen Jahren hatte er auf dem Rücken eines Pferdes jeden erreichbaren Winkel des zur Ranch gehörenden Landes erkundet, den Rest später, auf zweitägigen Ausflügen, wieder zu Pferd oder mit dem Geländerad. Meistens war er allein, und bald kannte er die Beschaffenheit des Geländes, jede einzelne Baumgruppe und den Felsüberhang am Fluss, von dem aus er seine Hand ins Wasser tauchen und manchmal die Kiemen der dicken Forellen auf seiner Haut spüren konnte.
Der Hügel war hundertfünfzig Meter von seinem Haus entfernt, und von der Straße oder der Veranda aus konnte man das gezackte Schiefergestein vor dem Hintergrund des Himmels sehen. Aber natürlich nicht den rückwärtigen Abhang, wo er als Junge immer gespielt hatte.
Damals hatte er Szenarien erdacht, in denen er heldenhaft seine Familie vor Bedrohungen bewahrte. Vor imaginären Indianern, als er noch sehr klein war, später vor ausgebrochenen Kriminellen oder Kommunisten. Bewaffnet mit einem Luftgewehr, hatte er sich auf dem Hügel hinter dem Schiefergestein versteckt und die nicht existenten Gegner ausgeschaltet, die den Schutz der Bäume verließen und auf die Ranch zustürmten. Von seinem Beobachtungsposten aus konnte er seine Mutter in der Küche sehen, sie ihn jedoch nicht. Sie hatte keine Ahnung, dass er gerade die Ranch rettete.
Manchmal war die Lage so verzweifelt, dass er zum Gegenangriff übergehen musste. Er stürmte im Zickzackkurs den Hügel hinab, einen Kriegsschrei auf den Lippen, während seine Feinde auf ihn feuerten. Manchmal trafen sie ihn, und um es realistischer zu machen, spritzte er Wasser aus seiner Feldflasche auf die unsichtbare Wunde, wo die Kugel eingeschlagen war. Dann glaubte er, sein Blut auf der Haut zu spüren. Er war praktisch klatschnass, wenn er das Haus erreichte und trotz tödlicher Wunden die letzten Bösewichter ausschaltete.
Beim Essen fragte ihn seine Mutter, warum er so nass sei. Er blickte sie an, als wüsste er nicht, wovon sie sprach.
Jahre später hatte er seinem Sohn die Stelle gezeigt und ihn sogar dazu gedrängt, hinter dem drei bis fünf Meter hohen Schiefergestein in Deckung zu gehen, das hier und da aus dem grasbewachsenen Hügel aufragte. Er hatte nicht vor, Jess junior zur Erfindung eigener Szenarien zu drängen, sondern wollte ihn lediglich von der Schönheit der Aussicht überzeugen, die man von hier auf die Ranch und die von Bäumen gesäumten Weiden hatte. Sein Sohn hatte den Blick in die Runde schweifen lassen, ihn dann aber nur achselzuckend angeblickt und gefragt, wann es Abendessen gebe.
Als er den Hügel hinabritt, sah er nach den neugeborenen Kälbern und ihren Müttern, auch nach den beiden, denen er in der vergangenen Nacht auf die Welt geholfen hatte und die schon auf der umzäunten Weide herumtollten und muhten. Ruhe gaben sie nur, wenn sie schliefen oder an den Zitzen ihrer Mütter saugten. Er mochte Kälber. Nur in diesen
ersten Tagen rochen sie gut, und das rötlich-braun und weiß gefleckte Fell war noch sauber.
Er ritt zwischen den Tieren hindurch und folgte dem Zaun den gegenüberliegenden Hügel hinauf. An einer Stelle hing der Stacheldraht zwischen zwei Pfosten herab, sodass die Kälber entkommen konnten, falls sie die Lücke bemerkten. Aber sie würden sich nicht weit von ihren Müttern entfernen, und beide würden einen Riesenlärm machen, um wieder zueinanderzufinden. Vielleicht konnte sich eine Kuh an dem Stacheldraht verletzen, wenn sie sich auf die Suche nach ihrem Neugeborenen machte. Er stieg ab, zog den Draht straff und hämmerte neue Krampen in die Pfosten. Nachdem er fertig war, folgte er einer alten Routine. Er ging an dem Zaun entlang und rüttelte kräftig an jedem Pfosten, um sich zu vergewissern, dass er unten nicht morsch war.
Und nur deshalb sah er den gelben Stofffetzen an dem zweiten Stacheldrahtstrang von oben.
Er bückte sich und betrachtete ihn. Das gelbe Stück Stoff war nur anderthalb Zentimeter lang und einen breit. Da es weder ausgefranst noch von der Sonne gebleicht war, konnte es noch nicht lange dort hängen. Vielleicht ist jemand von den Suchtrupps an dem Stacheldraht hängen geblieben, dachte er. Doch dann erinnerte er sich an Annie Taylors Beschreibung auf dem Aushang. Sie hatte ein gelbes Sweatshirt getragen, als sie zuletzt gesehen worden war.
Da entdeckte er in dem Schlamm neben seinen Stiefeln Fußabdrücke. Einer stammte von einem kleinen Turnschuh,
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