Stumme Zeugen
hatten. Das Chicken-fried-Steak verschwand von der Karte, und mit diesen Neuerungen hatte das Bear Trap für Jess’ Vater seinen Charakter verloren. Es wandelte sich von einer Kneipe für die Einheimischen zu einer Anlaufstelle für Touristen. Auf den Regalen wurden Munition und Angelhaken gegen Souvenirs ausgetauscht.
In jüngster Zeit hatten die Eigentümer aus Spokane allerdings das Handtuch geworfen, da ihnen die Lust fehlte, weiter in ein verfallendes Gebäude zu investieren, und das Lokal war von einem pensionierten Vorarbeiter aus einem Sägewerk und seiner Frau gekauft worden, die es wieder auf Vordermann zu bringen versuchten. Jess hielt dort, wann immer es ging, wenn auch mehr aus Solidarität als aus Überzeugung.
Jedes Mal hoffte er, das Essen möge besser geworden sein.
Als er auf den Parkplatz fuhr, fiel ihm auf, dass nur ein aufgemotzter Geländewagen mit Washingtoner Kennzeichen vor der Tür stand, mit Skiern auf dem Dach und an der Heckklappe an einem Träger festgezurrten Fahrrädern. Am Heckfenster sah er drei Aufkleber, auf denen university of washington, freiheit für tibet und auch wir sind wähler stand. Einwohner aus Washington hielten Idaho schon seit Langem für ein Land der Dritten Welt oder für eine im Nordwesten gelegene zweite Ausgabe der Appalachen. Die alten Klischees waren tief verwurzelt, ungeachtet aller Veränderungen und des Zuzugs neuer Mitbürger.
Das Lokal war düster und vollgestopft, und es roch nach vor langer Zeit vergossenem Bier und aus der Küche nach Öl, das dringend ausgetauscht werden musste. Jess ging zur Bar und wartete auf die Eigentümerin, die gerade an einem Tisch in der Mitte des Raums vier junge Gäste bediente, vermutlich Studenten. Jess drehte sich auf seinem Barhocker herum und nahm die vier genauer in Augenschein - zwei Männer, zwei Frauen, offenbar auf der Durchreise. Sie waren sehr laut. Die beiden jungen Männer trugen weit geschnittene Klamotten und hatten sich tagelang nicht rasiert, das Haar hing ihnen bis über die Augen. Einer war rothaarig und sommersprossig und hatte einen breiten, eckigen Unterkiefer. Der andere war ein dünner Schwarzer, dessen Augen aussahen, als wäre er gerade aufgewacht. Die Frauen waren jung und hübsch, eine Blondine mit weißem Achselhemd und Jeans und eine Brünette mit Mittelscheitel und einem kurzen dunklen T-Shirt, das ein goldenes Piercing an
ihrem Bauchnabel offenbarte. Nachdem die Kellnerin das Essen serviert hatte und die leeren Biergläser einsammelte, warf sie Jess einen genervten Blick zu.
»Noch’ne Runde Bier für meine Pferdchen«, brüllte einer der Jungs.
Die beiden Frauen kicherten, aber eine versetzte dem Typ einen scherzhaften Schlag gegen den Arm. »Wir sind nicht deine verfickten Pferdchen«, kreischte sie.
Jess zuckte zusammen. Natürlich kannte er solche Wörter, gelegentlich rutschte ihm selbst eines heraus. Aber dieses Mädchen war noch so jung und benutzte das Wort, als wäre nichts dabei.
Seine Erinnerung katapultierte ihn in die Zeit zurück, als sein Sohn nach dem Besuch des College nach Idaho zurückgekehrt war. Er war wie diese Jungs gewesen. Überschwänglich, laut, grob, ganz von sich selbst eingenommen. Fast ein Jahr lang war Jess junior das intelligenteste menschliche Wesen auf dem Erdball, und die Menschen, mit denen er aufgewachsen war, erschienen ihm nur noch als absolute Dummköpfe. Auf seine Art war er charismatisch und attraktiv, auf die Weise, wie für einige Mädchen ein schnelles rotes Kabriolett attraktiv ist. Jess fand die Persönlichkeitsveränderung beunruhigend, doch seine Frau versicherte ihm, es sei alles in Ordnung. Ihr Sohn sei all die Jahre unterdrückt worden, und jetzt komme er sich wichtig vor. Sie gab ihm zu verstehen, verantwortlich für die Unterdrückung sei er gewesen. Aber wie immer sie die Veränderung charakterisieren mochte, Jess hätte nicht sagen können, dass ihm gefiel, was aus Jess junior geworden war. Daran hatte sich bis heute nichts geändert.
Allerdings wusste er damals noch nicht, dass er seinen Sohn nie wieder so erleben würde.
Die Kellnerin kam mit ihrem Spiralblock zurück und schaute Jess an, als erwartete sie von ihm Verständnis und Mitgefühl.
»Die sind ganz schön laut«, sagte er.
»Nicht nur das«, flüsterte sie. »Diese Ausdrücke! Teufel, ich bin an Holzfäller gewöhnt, aber bei der Vulgärsprache erröte selbst ich. Angeblich wollen sie nach Montana, um ein paar Freunde in Missoula zu besuchen, aber eilig haben
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