Stumme Zeugen
sie, dass sie nass geschwitzt war. Sie hatte
Durst, und ihr Mund war so ausgetrocknet, dass sie erst kaum sprechen konnte.
»Da ist jemand, William«, sagte sie mit belegter Stimme.
Eine große Schiebetür öffnete sich polternd, grelles Licht flutete in die Scheune. Das Geräusch erinnerte an fernes Donnern. William riss erschrocken die Augen auf, und Annie nahm ihre Hand von seinem Mund.
Wer kann das sein?, fragten seine Augen.
Sie zuckte die Achseln, wagte aber nicht, über die Heuballen zu spähen und nachzusehen.
»Hallo?«, rief eine Männerstimme. »Ist da jemand?«
Bedrohlich klang die Stimme nicht, doch das war bei Mr Swann nicht anders gewesen.
»Ich habe draußen die Fußspuren gesehen. Sie führen zur Scheune. Meldet euch, wenn ihr hier seid.«
Annie und William blickten sich an, und sie wies mit einer Kopfbewegung auf die Heusichel und die Mistgabel, die William noch nicht gesehen hatte. Er blickte seine Schwester bewundernd an.
Sie zog ihn an sich. »Wenn er hochkommt, müssen wir uns verteidigen«, flüsterte sie ihm ins Ohr.
William nickte.
Für einen Augenblick war von unten nichts zu hören. Was macht er?, fragte sich Annie. Ist er wieder gegangen? Aber was, wenn er ins Haus zurückkehrt und den Sheriff anruft? Oder seinen Nachbarn, Mr Swann?
»Annie und Willie, seid ihr hier?«, rief der Mann leise.
Annies Herzschlag raste. Er kennt unsere Namen.
Sie blickte William an, der ein finsteres Gesicht zog, weil
er es nicht mochte, wenn man ihn Willie nannte. Er zog die Sichel aus dem Heuballen und fuhr mit einem Finger prüfend über die scharfe Klinge.
Sie hörten den Mann die Scheune durchqueren, dann die Tür der Werkstatt, schließlich das Geräusch von Schritten auf dem Holzboden. Die Tür schloss sich wieder.
»Annie und William, wenn ihr hier seid, könnt ihr rauskommen«, rief der Mann, diesmal noch etwas leiser. »Bestimmt habt ihr Hunger und Durst. Außerdem sorgt sich eure Mutter halb zu Tode. Ich habe gesehen, dass die Decken und die Plane weg sind, ihr habt euch sicher damit zugedeckt. Ganz schön clever. Aber ich denke, eine Dusche und ein kühles Getränk wären jetzt genau das Richtige.«
William schaute Annie an, und seine Augen sagten: »Das sehe ich auch so!«
Sie warf ihm einen tadelnden Blick zu.
»Bestimmt habt ihr Angst, und ich verstehe das«, rief der Mann. »Aber ich tue euch nichts. Ich heiße Jess Rawlins. Mir gehört diese Ranch.«
Plötzlich kamen Annie Zweifel. Die Stimme des Mannes wirkte freundlich und besorgt, und sie mochte ihren Klang. Aber woher sollte sie wissen, dass er die Wahrheit sagte? Selbst wenn er der Rancher war, konnte er nicht trotzdem mit Leuten wie Mr Swann oder den Mördern befreundet sein?
»Ich komme jetzt zu euch hoch«, fuhr Rawlins fort. »Als ich in eurem Alter war, habe ich mich auch immer auf den Heuballen versteckt. Außerdem scheinen mir heute mehr Ballen aufeinandergestapelt zu sein als gestern.«
William packte den Griff der Sichel mit beiden Händen,
und Annie zog die Mistgabel mit dem Holzstiel aus dem Heuballen und richtete die rostigen, gebogenen Zinken auf die Oberkante ihres Schutzwalls.
Sie hörten das schwere Atmen des heraufkommenden Mannes und spürten das fest gepresste Heu unter ihren Füßen durch sein Gewicht erzittern.
»Keine Angst«, sagte Rawlins. »Es wird alles gut.«
Als die große, gebräunte Hand sich wie eine Art Krebs über den obersten Heuballen schob, holte William aus und schlug mit der Sichel zu. Die scharfe Klinge bohrte sich direkt zwischen Daumen und Zeigefinger, und die Wunde begann sofort zu bluten. Der Mann zog mit einem zischenden Geräusch den Atem ein.
Annies erste, instinktive Reaktion war Ekel. Am liebsten wäre sie weggerannt, aber sie saßen hier in der Falle. Also schluckte sie und machte sich auf alles gefasst, weiter den Stiel der Mistgabel umklammernd. Sie beugte sich vor, und ihr Blick folgte dem Arm zu einer Schulter, dann zu einem verbeulten Cowboyhut. Unter der Krempe erblickte sie ein schmales gebräuntes Gesicht mit einem vor Schmerz verzerrten Mund. Sie richtete die Mistgabel auf den Mann und versuchte, eine finstere Miene aufzusetzen.
Obwohl Rawlins unübersehbar Schmerzen hatte, wirkte sein Blick immer noch nicht bedrohlich. »Verdammt«, sagte er. »Musste das sein? Tut richtig weh.«
Annie wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. William kauerte in einer Ecke ihres Verstecks und starrte auf die Hand des Ranchers, in der noch immer die Klinge der
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