Stumme Zeugen
sie es wahrhaftig nicht. Vielleicht bin ich zu alt, um so etwas noch zu ertragen.«
Er bestellte ein Sandwich mit Roastbeef und ein Glas Eistee.
Während der Koch das Weißbrot mit bereits geschnittenem Rindfleisch belegte, dachte er über sein Treffen mit Jim Hearne nach. Keine Frage, Hearne war ein guter Mann und würde alles in seiner Macht Stehende tun, um das Unvermeidliche hinauszuzögern und seinen tiefen Fall abzufedern. Vielleicht würde ihm etwas einfallen, um den Verlust der Ranch vorerst zu verhindern. Er hatte keinen Handlungsspielraum mehr und konnte sich aus eigener Kraft nicht mehr aus seiner Lage befreien. Es sei denn, er verkaufte die Ranch. Doch noch konnte er sich mit dem Gedanken nicht anfreunden, wollte ihn nicht einmal in Betracht ziehen.
Hinter ihm wurde es immer lauter. Ein Bierglas fiel zu Boden, eines der Mädchen kreischte, die Jukebox sprang an. Die College-Jugend machte es sich gemütlich.
»Hey, noch ein Bier!«, schrie einer der Jungs.
»Sekunde.« Die Eigentümerin schob Jess seinen Teller hin. »Vorsicht, ist heiß.«
Geistesabwesend fuhr er mit der Fingerkuppe über den Tellerrand. Eben nicht, dachte er.
Während die Eigentümerin ein weiteres Bier zapfte, hörte er einen der jungen Männer sagen: »Nicht übel, das weiße Fleisch auf dem Foto. Könnte mir gefallen, die Kleine.«
Eines der Mädchen lachte. »Halt die Klappe«, sagte sie mit gespielter Entrüstung.
Jess drehte sich um, weil er wissen wollte, wovon sie redeten, und sah den Aushang mit dem Bild der vermissten Taylor-Kinder, der kürzlich an der Pinnwand befestigt worden war, neben uralten Werbezetteln und Kleinanzeigen. Nein, dachte er. Sie können unmöglich dieses Foto gemeint haben. Ich muss mich geirrt haben. Er wandte sich wieder seinem Teller zu, beobachtete aber die Lage im Spiegel hinter der Bar. Sein Zorn wuchs. Es war der Schwarze gewesen, der von dem weißen Fleisch gesprochen hatte.
»Zu verkaufen«, sagte der Rothaarige mit einem nachgeäfften ländlichen Akzent. »Zwei kleine weiße Asis aus North Idaho, richtige … Rotznasen!«
»Rotznasen«, echote der andere lachend.
»Kaum war die Sozialhilfe futsch, waren wir zwei Esser zu viel«, fuhr der Rotschopf in dem Hillbilly-Akzent fort. »Nachdem Billy Bob seinen Job im Sägewerk los war, gab’s nur noch Eichhörnchen und Bier.«
Jetzt lachten beide Mädchen. Sie waren betrunken und amüsierten sich prächtig darüber, wie der Rotschopf die Aussprache der Arbeiter imitierte. Trotzdem sagte die Blondine erneut: »Halt die Klappe, sonst hört dich noch jemand.«
Der Schwarze zeigte auf das Foto. »Seht euch die Kleine an. Als weiße Sklavin würde sie ein paar Dollar bringen. Teufel, man könnte sie an die Jungs von der Studentenverbindung verhökern.«
Die Frauen lachten, die Brünette hielt sich die Hand vor den Mund. Jess war für einen Moment völlig benommen, als hätte ihm jemand einen Schlag mit einem Baseballschläger verpasst. Er konnte nicht glauben, dass sie über die Taylor-Kinder Witze rissen, und er dachte an das Bild von Annie, das ihn eben noch so berührt hatte. Wie konnten sie sich über so etwas amüsieren? In was für einer Welt lebten sie? Woher kamen sie, dass sie so etwas für Humor hielten? Klar, sie waren betrunken. Aber wie konnten die Mädchen über so etwas lachen?
Die Eigentümerin wirkte wie an ihrem Zapfhahn festgeschweißt und starrte wütend in Richtung des Tisches. Bier lief über den Rand des Glases, aber sie bekam es nicht mit. Auch sie wollte ihren Ohren nicht trauen. Doch es lag noch etwas in ihrem Blick - sie war verletzt. Die Studenten legten die alte Arroganz der Einwohner von Washington an den Tag, die sich den Hinterwäldlern aus Idaho überlegen fühlten. Was sich hier geändert hatte, entging ihnen.
Jess spürte, wie Zorn in ihm aufstieg, und glitt von seinem Barhocker. Das Geräusch seiner Stiefel hallte laut durch den Raum, als er auf den Tisch zuging, aber die Studenten bemerkten ihn erst, als er schon direkt vor ihnen stand. Er stützte die Hände auf die Tischplatte und nickte den beiden jungen Männern zu.
»Ihr zwei«, sagte er. »Ich habe mit euch zu reden. Draußen.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er durch den Raum und trat durch die Schwingtür nach draußen. »Was ist denn mit dem los?«, hörte er den Rotschopf noch fragen. »Wir müssen nirgendwo hingehen, wenn wir keine Lust haben«, sagte der Schwarze, und eines der Mädchen fügte hinzu: »Genau, auch wir haben unsere
Weitere Kostenlose Bücher