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Stumme Zeugen

Titel: Stumme Zeugen Kostenlos Bücher Online Lesen
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der andere, etwas größer, von einem Fuß ohne Schuh.
    Er richtete sich auf und folgte mit dem Blick der Spur der Fußabdrücke. Sie führten in Richtung seiner Scheune.

Samstag, 14.50 Uhr
    »Ich höre jemanden.« Annie hielt William den Mund zu und erstickte so ein langes Klagelied darüber, wie hungrig er war. William wand sich widerstrebend und versuchte, ihre Hand wegzuziehen, doch jetzt hörte auch er das Knirschen von Schritten auf dem Kies vor der Scheune.
     
    Als sie in der letzten Nacht zwischen den gelockerten Stacheldrahtsträngen des Zauns hindurchgeschlüpft waren, hatte Annie die Idee gehabt, sie könnten sich in der Scheune verstecken, deren Dach im bläulichen Mondlicht schimmerte. Sie stand am Fuße des Abhangs, ein gutes Stück von der dunklen Mauer des Waldes entfernt. Dort unten sahen sie auch ein Haus, tatsächlich sogar zwei, doch in keinem brannte Licht. Aber sie hatten ohnehin nicht vor, irgendwo anzuklopfen. Nach dem Vorfall bei Mr Swann trauten sie niemandem mehr.
    Annie hatte Williams Hand gehalten, während sie möglichst leise über den Hof der Ranch gelaufen waren, immer in Sorge, von einem bellenden Wachhund angefallen zu werden. Stattdessen näherte sich ihnen ein großer alter Labrador, der mit dem Schwanz wedelte und an Williams Hand leckte.
    In der Scheune sahen sie nur eine trächtige Kuh, die friedlich in ihrem Stall stand. Die Hälfte des Innenraums nahmen wohlriechende Heuballen ein, die so aufeinandergestapelt waren, dass sie eine Treppe bildeten. Sie kletterten hinauf, bis sie ganz oben angekommen waren, direkt unter
den Dachbalken. Annie beschloss, dass sie vorerst hierbleiben und sich ausruhen würden. Von hier aus konnten sie die ganze Scheune überblicken und die Tore im Auge behalten.
    »Wir müssen uns ein Nest bauen«, sagte sie zu William.
    »Lass uns ›Fort‹ sagen. Hört sich besser an.«
    »Okay, dann eben ein Fort.«
    »Ich werde uns beschützen«, sagte William. »In meinen Venen fließt das Blut eines Outlaw.«
    »Meinst du Billy? Lass uns das Thema wechseln.«
    »Mein Dad war ein Outlaw.«
    Annie schaute ihn genervt an. »Dein Vater war ein Krimineller, William.«
    »Er war auch dein Vater.«
    »Das bezweifle ich.«
    Williams Augen wurden feucht, seine Oberlippe zitterte. Annie bedauerte, was sie gesagt hatte.
    »Es tut mir leid«, sagte sie. »Mach dir nichts draus. Komm, wir bauen unser Fort.«
    »Das schaffe ich schon«, sagte er mit bebender Stimme.
    »Ich weiß.«
    Die Heuballen waren schwer, doch zu zweit schafften sie es, sie an den Schnüren, die sie zusammenhielten, anzuheben und damit eine Mauer um ihr Versteck zu bilden.
    Obwohl William fast im Stehen einschlief, zwang Annie ihn, mit ihr in die Scheune hinabzusteigen, wo sie in einer Werkstatt steife Satteldecken und eine Plane fanden, die sie in ihrem Fort auf den Boden legten. William schlief schon, bevor Annie ihn zudecken konnte.
    Sie ging noch einmal allein in die Werkstatt, um eine
Heusichel und eine Mistgabel zu holen, die sie mit in ihr Fort nahm. Die Forke steckte jetzt in Reichweite in dem obersten Heuballen, wie die Sichel mit der gebogenen Klinge.
     
    Annie hatte eine unruhige Nacht hinter sich, jedes Geräusch hatte sie verängstigt und wach gehalten - der Flügelschlag eines Vogels zwischen den Dachbalken oder das Geräusch der urinierenden Kuh, das sich anhörte, als würde ein Eimer Wasser ausgeschüttet. Vor ihrem geistigen Auge spulten sich immer wieder die Ereignisse des Vortages ab, und die Erinnerung erschien ihr noch intensiver als die ursprüngliche Erfahrung. Das Blut, das aus der Brust und den Kopfwunden des Mannes mit dem welligen Haar strömte, den sie erschossen hatten. Der Geruch des Schweinemists an Mr Swanns Stiefeln, als sie sich zu seinen Füßen auf den Boden des Pick-ups gekauert hatten. Die scharfen Tannennadeln, die ihre Arme gestreift hatten, als sie im Dunkeln durch den dichten Wald gerannt waren, um sich möglichst weit von Swanns Haus zu entfernen. William hatte sie immer wieder mit dem Ellbogen in die Rippen gestoßen, damit sie eine Pause machten.
    Bevor sie in einen unruhigen Schlaf fiel, hatte sie noch das gelbliche Licht der aufgehenden Sonne gesehen, das durch Spalten in der östlichen Wand in die Scheune fiel.
    Draußen war jemand. Mittlerweile war es sehr viel wärmer, denn die Sonne schien auf das Scheunendach, das dicht über dem Wall aus Heuballen war. Vermutlich war es Mittag oder früher Nachmittag. Als sie die Plane zurückschlug, bemerkte

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