Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Stumme Zeugen

Titel: Stumme Zeugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: authors_sort
Vom Netzwerk:
saßen am Küchentisch und beobachteten ihn schuldbewusst. An dem Tisch wirkten sie kleiner als in der Scheune. Annies Füße - einer davon nackt und dreckig - berührten kaum den Boden. William, offenbar ein nervöses Energiebündel, schwang die Beine hin und her und warf ihm gelegentlich einen verstohlenen Blick zu. Annie dagegen schaute ihm direkt in die Augen. Wahrscheinlich hat er Angst, dass ihm Ärger bevorsteht, dachte Jess. Manche Kinder reagierten seltsam, wenn ihnen bewusst wurde, dass sie in der Lage waren, Erwachsenen körperlichen Schmerz zuzufügen.
    »Ich lege eben den Verband an, dann gibt’s was zu beißen«, sagte Jess. »Anschließend rufe ich den Sheriff an und sage ihm, dass ich die beiden kleinen Herumtreiber gefunden habe.«

    »Das mit der Hand tut mir leid«, sagte Annie.
    »Ich werd’s überleben. Du kannst ziemlich gut mit einer Sichel umgehen. Schon mal darüber nachgedacht, bei der Heuernte mitzuhelfen?«
    »Nein. Außerdem war es William.«
    Jess blickte ihren jüngeren Bruder an, dessen Blick zugleich Angst und Stolz verriet.
    »Weißt du, ich wäre heute Mittag beinahe in eine Prügelei mit zwei Jungs vom College geraten«, sagte er. »Wahrscheinlich hätten sie mich übel aufgemischt, aber sie haben mich verschont. Es musste erst ein Zehnjähriger kommen, um ernsthaften Schaden anzurichten.«
    Jetzt strahlte William, aber Annie warf ihm einen tadelnden Blick zu. »Du solltest dich entschuldigen.«
    »Ich hab doch gesagt, dass es mir leidtut.« William blickte Jess an. »Mein Dad war ein Outlaw. Vielleicht habe ich es deshalb getan.«
    Jess dachte einen Moment nach. »Ich bin nicht sicher, ob du darauf stolz sein solltest.«
    William wirkte beleidigt, Annie fühlte sich bestätigt.
    »Aber das mit der Sichel hast du raus«, sagte Jess schnell. William lächelte, Annie nicht.
    »Was gibt’s zu essen?«, fragte William.
    »Frühstück. Pfannkuchen, ein Steak, Eier. Einverstanden?«
    »Draußen ist es schon fast dunkel«, sagte Annie. »Warum servieren Sie das Frühstück abends?«
    Sie schaute ihm direkt in die Augen, und Jess glaubte, in ihrem Blick einen Anflug von Härte zu erkennen, für den sie noch zu jung schien. Vielleicht hatte sie schon zu viel in
ihrem kurzen Leben gesehen und war an Enttäuschungen gewöhnt. Es versetzte ihm einen Stich ins Herz. Sie hatte etwas Besonders. Er erinnerte sich an seine Eindrücke, als er ihr Bild zum ersten Mal auf dem Aushang in der Bank gesehen hatte. Und an seine Wut über die dummen Witze der beiden Studenten. Von Anfang an hatte er Sympathie für sie empfunden, und er wollte sie nicht enttäuschen.
    »Weil ich weiß, wie man ein anständiges Frühstück für Kinder macht«, antwortete er. »Seit einer Weile koche ich nur noch für mich, ich bin aus der Übung. Frühstück kann ich am besten.«
    »Wo sind Ihre Kinder?«, fragte William.
    »Ich habe nur einen Sohn. Er ist erwachsen. Weggezogen.« Er zuckte zusammen, als er Salbe auf die Wunde rieb. Anschließend umwickelte er die Hand mit einem Verband und befestigte ihn mit Pflaster. Als er richtig gut saß, riss er das Pflaster mit den Zähnen ab. Er hörte, wie Annie ihren Bruder flüsternd zurechtwies. Sie sagte, der Rancher sei ganz schön alt, und deshalb sei es kein Wunder, dass sein Sohn nicht mehr hier lebe. Wahrscheinlich sei auch der schon »richtig alt, ungefähr vierzig«.
    »Ich rufe doch noch vor dem Essen den Sheriff an.« Jess griff mit der verbundenen Hand behutsam nach dem Hörer des Wandtelefons. »Ihr beiden habt einen ganz schönen Aufruhr in der Stadt verursacht. Überall sind Aushänge mit Fotos von euch. Selbst Freiwillige und ein paar ehemalige Polizisten beteiligen sich an der Suche nach euch. Eure Mutter muss ganz krank vor Sorge sein.«
    Annie und William blickten sich an.
    Er war unschlüssig, ob er die Notrufnummer wählen
oder direkt im Büro des Sheriffs anrufen sollte. Die Wahl fiel auf den Sheriff, und er blätterte im Telefonbuch. Dabei wurde ihm erneut bewusst, wie viele seiner Freunde weggezogen oder tot waren. Schon vor ein paar Monaten war ihm diese Erkenntnis wie Schuppen von den Augen gefallen, und auch jetzt war dieses Gefühl wieder da, eine Mischung von sehnsüchtigen Erinnerungen an die Vergangenheit und Angst. Er war der Gleiche geblieben, doch in seiner Umgebung hatte sich alles verändert. Es hatte eine Zeit gegeben, als um ihn herum, in der Nachbarschaft, ein Dutzend guter Menschen lebte, denen er vertrauen konnte. Auch in dieser Situation

Weitere Kostenlose Bücher