Stumme Zeugen
Glück immer noch nicht fassen.
Auf dem runden Platz am Ende der Auffahrt standen drei Fahrzeuge - der Landrover seiner Frau, der Taurus seines Sohnes und der alte Pick-up, mit dem er schwere Lasten beförderte. Der Taurus stand dort, wo sonst immer er sein Auto parkte, und deshalb betrat er das Haus mit schlechter Laune. Manchmal glaubte er, dass alles zu schnell gegangen war und dass seine Familie ihren Lebensstandard nicht richtig zu würdigen wusste. Sie hatten keine Ahnung, welche Opfer er für dieses neue Leben gebracht und was er alles dafür getan hatte, dass seine Jungs wie Tom Sawyer aufwachsen konnten - nicht wie ein Rapper aus dem Ghetto wie 50 Cent. Singer und die anderen waren hierhergezogen, um die Einsamkeit zu suchen, weil ihr Beruf sie anekelte und ihnen unerträglich geworden war, doch Newkirk war es darum gegangen, seine Familie zu retten. Er wünschte, sie wären sich dessen bewusst gewesen und hätten zu würdigen gewusst, wie sie jetzt leben konnten.
Die beiden Jungs und seine Tochter saßen am Küchentisch und hatten bereits mit dem Abendessen begonnen. Seine Frau Maggie empfing ihn mit einem bösen Blick. Newkirk bemerkte, dass an seinem Platz nicht gedeckt war.
Erst jetzt fiel ihm ein, dass Maggie ihn gebeten hatte, zeitig nach Hause zu kommen, damit sie gemeinsam mit den Kindern essen konnten. Das kam heutzutage selten vor, da die Jungs Baseball und die zehnjährige Lindsey Fußball spielten und ständig zum Training mussten.
»Mein Gott«, stöhnte er. »Ich hab’s total vergessen.«
Die Jungs guckten auf ihre Teller, denn sie wussten, dass ihre Mutter wütend war, und hatten keine Lust, in den Streit hineingezogen zu werden.
»Ja, sieht so aus«, sagte Maggie. Sie war eine zierliche, blasse Frau mit rotem Haar und grünen Augen, die wie Edelsteine funkelten, wenn sie zornig war.
»Ich war im Büro des Sheriffs …«
»… und wolltest eigentlich anrufen«, beendete sie seinen Satz.
Er schloss behutsam die Küchentür. In dem Haus war es sehr still. Am meisten tat es ihm für seine Kinder leid. Seine Söhne kamen damit klar, sie waren Teenager und vollauf mit Sport, Mädchen und ihren iPods beschäftigt. Lindsey dagegen konnte sein Herz brechen. Sie bewunderte ihren Vater, den sie nur als den Guten Vater kannte, als den Mann, der er nach dem Umzug nach Idaho geworden war. Sie hatte keine Ahnung, wie er früher gewesen war.
Maggie schob ihren Stuhl zurück und trat auf ihn zu. »Ist dir klar, wie schwer es ist, alles zu planen?« Sie war völlig
aufgebracht. »Ich bitte dich einmal, pünktlich zum Essen zu kommen, und du schaffst es nicht. Einmal!«
Er trat einen Schritt zurück und blickte sie an. »Hör zu, es tut mir leid, dass ich es vergessen habe. Aber es werden zwei Kinder vermisst, und ich habe mich freiwillig gemeldet, um bei der Suche zu helfen. Ich war im Büro des Sheriffs, mit Singer und Gonzales …«
Sie rollte die Augen, als sie die Namen hörte.
»Was ist?«
Ihr stiegen Tränen in die Augen. »Ich dachte, wir hätten dieses Leben hinter uns gelassen, Jim. Du hast es mir versprochen. Versprochen.«
Sind dir diese Kinder egal?, hätte er am liebsten gefragt, brachte es aber nicht über sich angesichts dessen, was er wusste.
»Und, bleibst du jetzt zu Hause?«, fragte sie.
»Nein«, antwortete er nach kurzem Zögern. »Ich habe gerade genug Zeit, um mich umzuziehen. Wahrscheinlich bin ich die ganze Nacht weg.«
Maggies Miene verhärtete sich, und ihr Gesicht wirkte sehr mager. Sie drehte sich auf dem Absatz um, verließ die Küche und knallte die Tür so hart zu, dass das Geräusch durch das ganze Haus hallte.
Newkirk stand mit errötetem Gesicht da, und Jason, sein jüngerer Sohn, blickte ihn an. »Falls du Hunger hast, es ist noch ein Steak da.«
Newkirk antwortete nicht, sondern wandte sich dem siebzehnjährigen Josh zu. »Ich möchte, dass du deinen Wagen wegfährst, wenn du mit dem Essen fertig bist. Du stehst auf meinem Parkplatz.«
Josh seufzte. »In Ordnung.«
»Wir sehen uns morgen. Sagt eurer Mutter, dass ich gehen musste.« Er stieg die Treppe zu seinem Schlafzimmer hoch, um sich umzuziehen.
Samstag, 18.20 Uhr
Jess Rawlins säuberte die Wunde über dem Spülbecken und studierte sie eingehend. Es war gut, dass sie blutete, weil so potenzielle Infektionserreger weggespült wurden. Er dehnte seine Hand, zuckte angesichts des unerwartet starken Schmerzes zusammen, und hielt sie erneut unter den kalten Wasserstrahl.
Annie und William Taylor
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