Stumme Zeugen
bezweifelte, dass sie das stören würde. Schließlich hatte er nicht damit gerechnet, über Nacht Besuch zu bekommen. Annies Kopf lag vor dem Kopfbrett, Williams am Fußende. Er deckte die beiden zu. Wahrscheinlich wäre es ihnen lieber gewesen, nicht die fremden Kleidungsstücke anzuhaben, aber er wagte es nicht, sie auszuziehen.
An den Türpfosten gelehnt, betrachtete er die beiden. Es war lange her, seit zuletzt Kinder in seinem Haus gewesen waren. Sie brachten einen frischen Geruch mit, den er vergessen hatte.
Was zum Teufel tue ich da?, fragte er sich.
Samstag, 19.45 Uhr
Villatoro saß auf einem der zu weichen Betten und aß sein Abendessen aus einer Plastiktüte zwischen seinen Knien - zwei Hamburger mit Pommes frites von McDonald’s und die zweite Flasche Bier aus einem Sixpack, das er in einem
kleinen Supermarkt gekauft hatte. Er aß mit Heißhunger und wünschte sich, mehr bestellt zu haben, denn es war spät, und er hatte das Mittagessen ausfallen lassen. Eigentlich hätte er lieber in einem richtigen Restaurant gegessen, doch nachdem er länger auf der Suche nach einem ansprechend wirkenden Lokal durch Kootenai Bay gefahren war, hatte er schließlich aufgegeben. Eigentlich wäre er beim Essen lieber unter Menschen gewesen, doch so fuhr er zu dem Drive-in von McDonald’s nördlich der Stadt. Bier und Pommes frites passten nicht gut zueinander, und ihm war klar, dass er später dafür büßen würde.
Von draußen hörte er Teenager, die am sandigen Ufer des Sees lachten und Popmusik hörten. Er fragte sich, ob ihnen bewusst war, wie gut sie es hier hatten. Wahrscheinlich nicht. Jugendliche wollten immer ausbrechen, egal, wo sie gerade waren. Ein Güterzug fuhr durch die Stadt in Richtung Süden und ließ die Wände des Hotels erzittern.
Im Fernsehen liefen gerade die Nachrichten aus Spokane. Das Verschwinden der Taylor-Kinder war die Topmeldung, aber der Moderator und die Reporterin vor Ort wussten nicht mehr als das, was er bei seinem Besuch in der Bank und im Büro des Sheriffs erfahren hatte. Trotzdem beugte er sich gespannt vor, als eine attraktive Blondine Sheriff Ed Carey interviewte. Carey wirkte aufrichtig besorgt und sagte, er verfolge jede Spur und tue alles, um die beiden Kinder zu finden.
»Wie ich höre, haben Sie ein wahres Dream Team um sich, das Ihnen bei der Suche nach den verschwundenen Kindern hilft«, sagte die Reporterin und hielt dem Sheriff das Mikrofon vor den Mund.
Villatoro bemerkte den Anflug eines Lächelns auf dem Gesicht des Sheriffs. Wahrscheinlich war er erleichtert, weil das die einzige gute Neuigkeit war, die er zu verkünden hatte.
»Stimmt«, antwortete er. »Wir haben das große Glück, dass in unserer Stadt und Umgebung sehr viele pensionierte Polizisten leben, die sich mit solchen Fällen auskennen. Sie verfügen über langjährige Erfahrung und stellen mir und unseren Einwohnern ihre Dienste freiwillig zur Verfügung.«
»Das ist ja großartig«, sagte die Reporterin strahlend.
Carey nickte. »Sie arbeiten rastlos, wohlgemerkt ohne Bezahlung. Durch ihre Hilfe konnten wir unsere Ermittlungen ausdehnen, und wir gehen auf absolut professionelle Weise vor.«
Die Reporterin gab an den Moderator zurück, der den Bericht abrundete: »Wie wir hören, sind die Freiwilligen ehemalige Polizisten vom Los Angeles Police Department …«
Villatoro erstarrte, der Hamburger schwebte auf halbem Weg zu seinem Mund in der Luft. Er fragte sich, wie viele Excops bei der Task Force mitmachten. Wer außer Newkirk war noch dabei?
Nach einem Blick auf die Uhr dachte er, dass seine Frau bestimmt noch wach war, und rief sie an. Donna nahm sofort ab, und er stellte sie sich vor, mit dem Kopfkissen im Rücken im Bett sitzend und einem aufgeschlagenen Buch auf den Oberschenkeln. Er entschuldigte sich dafür, dass er sie am vergangenen Abend nicht angerufen hatte, und sie erzählte, seine Mutter mache sie wahnsinnig.
»Wo bist du noch mal?«, fragte sie. »In Ohio? Oder Iowa?«
»In Idaho. Fast an der kanadischen Grenze.«
»Kommen von da nicht unsere Kartoffeln?«
»Ja, ich denke schon. Aber nicht ganz so weit aus dem Norden. Hier gibt’s viele Berge und Seen. Es ist wunderschön und sehr … einsam.«
»Würde es mir gefallen?«
»Für eine Weile schon. Shoppen kann man woanders besser, und es gibt nicht viele Restaurants.«
Er erzählte ihr von den verschwundenen Taylor-Kindern, und sie sagte, etwas darüber in den Nachrichten gehört zu haben. Aber es hätten auch
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