Stumme Zeugen
andere vermisste Kinder sein können, fügte sie hinzu, heutzutage passiere so etwas ja alle naselang, man komme gar nicht mehr mit.
Donna war Angloamerikanerin. In den letzten zehn Jahren hatte sie stark zugenommen, und jetzt führte sie einen permanenten Kampf gegen überflüssige Pfunde. Wiederholt hatte ihr Villatoro wahrheitsgemäß versichert, ihm sei das egal. Seine aus El Salvador stammende Mutter hatte alles noch schlimmer gemacht, als sie vor zwei Wochen beim Frühstück verkündete, sie wolle ihnen eine neue Steppdecke für ihr Ehebett schenken: »Ich habe mich für eine leichte entschieden, weil korpulente Leute ihre eigene Wärme erzeugen.« Donna hatte wie versteinert dagesessen und war seitdem nur noch niedergeschlagen.
»Hast du etwas von Carrie gehört?«, fragte er mit einem Blick auf das gerahmte Familienfoto auf dem Nachttisch. Ihre Tochter, ihre wunderschöne dunkelhaarige Tochter, studierte am College Filmwissenschaft. Ihr Auszug hatte eine
Lücke zurückgelassen, die Donna und seine Mutter nicht schließen konnten.
»Nur per E-Mail«, sagte Donna. »Sie braucht Geld für irgendeinen Filmclub.«
»Überweis es ihr«, antwortete er automatisch.
Anschließend ließ Donna ihren Tag Revue passieren: Frühstück mit Mama, Einkäufe, Ärger in der chemischen Reinigung. Wegen Straßenbauarbeiten war für zwei Stunden das Wasser abgestellt worden.
Zu spät begriff er, dass sie eine Frage gestellt hatte, als er in Gedanken woanders war. »Was hast du gesagt?«
»Ich habe gefragt, wann du zurückkommst.«
»Keine Ahnung, ein paar Tage wird’s noch dauern. Ich habe das Gefühl, der Lösung näherzukommen. Eigentlich ist es schon mehr als nur ein Gefühl.«
Sie seufzte. »Das höre ich nicht zu ersten Mal.«
»Aber diesmal …«
»Diese Obsession ist ungesund.«
Es war mehr als eine Obsession, sie hatten schon oft darüber geredet.
»Warum ist dir dieser Fall so wichtig?«, fragte sie. »Du musst herausfinden, wie dein neues Leben aussehen könnte. Bisher hast du es nicht mal versucht.«
»Ich bin noch nicht so weit.«
»Ich habe mit den Chows gesprochen, die ein paar Häuser weiter wohnen«, sagte sie. Die Bevölkerung von Arcadia bestand zu fünfzig Prozent aus Asiaten. »Mr Chow ist vor vier Wochen in den Ruhestand getreten, und sie haben sich gerade einen Wohnwagen gekauft, um im ganzen Land herumzureisen. Sie sind aufgeregt wie Teenager.«
»Ist das die Zukunft, die du für uns siehst?«
Sie zögerte kurz. »Nein, eigentlich nicht.«
Er lachte gekünstelt und hoffte, das Thema so zu entschärfen. Er hatte ihr alles erklärt, und sie behauptete, ihn zu verstehen. Doch auch wenn es so war, es hielt sie nicht davon ab, das Problem immer wieder aufs Neue anzuschneiden.
In den acht Jahren seit dem Raubüberfall hatte er mit diesem Fall gelebt. Es war der einzige unabgeschlossene Mordfall bei seiner Polizeibehörde, und er war dafür verantwortlich. Daran änderte auch die Pensionierung nichts. Er hatte seine Verantwortung schon immer ernst genommen, auch wenn andere in dieser Hinsicht nicht die gleiche Leidenschaft aufbrachten. Der Beruf des Polizisten war für ihn eine Berufung, wie der des Priesters. Ihm war klar, dass die meisten seiner Kollegen das anders sahen, und er hatte es nie verstanden. Sie wären als Bauinspektoren oder in einer städtischen Behörde genauso glücklich und zufrieden gewesen.
Es hatte ihn geschockt, als sein Chef beschloss, den Fall an das LAPD zu übergeben. Für ihn war nur eine Nebenrolle als Verbindungsmann vorgesehen. Die Detectives aus L. A. waren sehr viel mehr daran interessiert, auf der Rennbahn in Santa Anita zu wetten, als den Mord an dem Mann von der Security aufzuklären. Die paar Tage in Arcadia waren für sie ein Kurzurlaub, mit langen Mahlzeiten und endlosem Palaver, während sie nur sehr wenige Fragen an ihn stellten. Das ärgerte ihn aus zwei Gründen. Erstens waren die Mörder - trotz der Verurteilung der Angestellten der Rennbahn - nie gefasst worden. Die Detectives aus L. A. schien das nicht weiter zu beunruhigen. Sie waren an unabgeschlossene
Fälle gewöhnt. Für sie ging es darum, ihre Zeit abzureißen, die Akten durch einige Berichte anschwellen zu lassen und beim Wetten auf der Rennbahn ein paar Dollar zu gewinnen. Die andere Sache, die ihn ärgerte - oder eher auffraß, wie ein Krebs -, war die Erkenntnis, dass diese Männer die Vorhut einer sich immer weiter ausbreitenden, dreckigen Großstadt waren, die kleine Orte wie Arcadia
Weitere Kostenlose Bücher