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Stumme Zeugen

Titel: Stumme Zeugen Kostenlos Bücher Online Lesen
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der Straße standen ältere, kleine Häuser. In vielen der winzigen, mit weiß gestrichenen Zäunen eingefriedeten Vorgärten sah er große, kreisförmige Sägeblätter, mit Bergmotiven bemalt. Diese betagten Häuser hatten etwas Idyllisches, und die darin wohnenden Familienväter und ihre Vorfahren waren zweifellos Holzfäller oder Minenarbeiter gewesen. Doch neben diesen bescheidenen Häusern gab es die neuen, protzigen, mit viel Glas und riesigen Grundstücken, wo funkelnde neue Geländewagen auf den Auffahrten standen und Schilder die Namen der Anwesen verkündeten - »Duck Creek Ranch«, »Elkhorn Estate« oder »Spruce Casa«. Und überall standen Plakate mit der Aufschrift GRUNDSTÜCK ZU VERKAUFEN. Um die alten Strukturen herum entwickelte sich eine völlig andersartige Lebenskultur. Golfplätze wurden angelegt, Antiquitätenläden und Espressobars waren in alte Häuser eingezogen, an deren Fassaden noch immer verblichene Schilder mit Aufschriften wie general store oder nightcrawlers hingen.
    In Sichtweite der Grenze zu Montana wendete er und machte sich auf den Rückweg. Mittlerweile waren mehr Autos unterwegs, das Leben erwachte. Zeitungen wurden ausgetragen, vor Gaststätten parkten Pick-ups, Fahrer rauchten
draußen vor dem Frühstück ihre Zigarette zu Ende. Ein augenfälliger Kontrast dazu waren schlanke, gebräunte Frauen unbestimmbaren Alters, die am Seeufer joggten, mit den Kopfhörern ihre iPods im Ohr, manche mit Hund.
    Zurück in Kootenai Bay, blickte er auf die Uhr. Auch wenn Celeste die Nachricht auf ihrer Mailbox gehört hatte, war es noch zu früh, um ins Büro zu gehen. Auf Informationen über Newkirk würde er noch warten müssen. Er fuhr in die Innenstadt und parkte hinter einem verbeulten Pick-up, gegenüber einem altmodischen Lokal namens Panhandle Cafe.
    Als er den Motor abgestellt hatte und gerade den Schlüssel aus dem Zündschloss ziehen wollte, blickte er durch die Windschutzscheibe - und schnappte nach Luft. In knapp zwei Metern Entfernung sah er das riesige, runde Gesicht eines Bären.
    Es dauerte einen Moment, bis er begriff und sich sein Herzschlag wieder verlangsamt hatte. Keine Frage, es war ein Bär, direkt vor ihm, auf der Ladefläche des Pick-up. Aber er war tot, trotz der geöffneten Augen und der aus dem Hals hängenden Zunge. Sein Kopf hing über der Heckklappe, daneben lagen die Vordertatzen. Es sah aus, als wollte er gleich von der Ladefläche klettern.
    Als sich auch seine Atmung beruhigt hatte, stieg er aus, ohne das Biest eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Jetzt sah er, dass unter der Heckklappe Blut hindurchsickerte und auf die Erde tropfte.
    »Im Frühjahr werden bei uns Bären gejagt«, sagte jemand hinter ihm. Villatoro zuckte ängstlich zusammen, sofort beschämt über seine Reaktion.

    »Tut mir leid, ich wollte Ihnen keinen Schreck einjagen.«
    Der Mann war Ende fünfzig oder Anfang sechzig. Er trug eine leichte Jeansjacke und einen fleckigen Cowboyhut, und eine Hand steckte in einem Verband. Villatoro erkannte ihn; es war der Rancher, der vor ihm den Termin bei Bankdirektor Jim Hearne gehabt hatte. Der Verband war ihm am Vortag nicht aufgefallen. In der Bank waren sie einander nicht vorgestellt worden, und Villatoro fragte sich, ob der andere ihn wiedererkannte. Welcher Name stand noch mal auf der Akte, die Hearne weggestellt hat? Rawlings?
    »Kein Problem«, sagte er. »Ich sah nur plötzlich diesen Bären …«
    »Ich wünschte, sie würden es bleiben lassen, aber es ist hier eine Tradition. Wenn ein Jäger einen Bären erlegt, muss er in die Stadt kommen und eine Lokalrunde schmeißen.«
    Villatoro wies mit einer Kopfbewegung auf das Panhandle Cafe. »Kann man da gut frühstücken?«
    »Ja, auch wenn der Laden schon mal besser war. Trotzdem treffen wir uns da morgens. Alte Männer, so wie ich.«
    »Gehen die Leute hier sonntags zur Kirche?«
    »Ja«, antwortete der Rancher nach kurzem Zögern. »Normalerweise gehe ich auch hin, aber heute nicht.«
    »War nur so eine Frage. Die Stadt macht den Eindruck, als wären die Leute hier gläubig. Ich habe mal an einem ähnlichen Ort gewohnt.«
    Der Rancher schaute ihn mit einem Anflug von Misstrauen an.
    Villatoro blickte zu dem toten Tier hinüber. »Essen die Leute hier Bärenfleisch?«
    Sein Gegenüber zuckte die Achseln. »Manche machen
Wurst daraus. Schmeckt ein bisschen wie Schweinefleisch. Ich war nie besonders scharf darauf.«
    Villatoro erschauderte. Er wünschte, der Bär hätte die Augen geschlossen,

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