Stumme Zeugen
ihr auf einem umgedrehten Eimer saß, gerade so weit entfernt, dass er nicht getroffen wurde, wenn die Kuh ausschlug.
»Ganz entspannt, meine Süße.« Er hoffte, dass das Kalb keine Steißgeburt war. »Es wird schon alles gut.«
Neben dem mühsamen Atmen waren in der Scheune nur
zwei weitere trächtige Kühe zu hören, die geräuschvoll ihr Heu fraßen. Sie schauten mit teilnahmslosen Blicken kurz zu ihrer Artgenossin hinüber und fraßen dann weiter.
Die Schiebetür quietschte und öffnete sich ein paar Zentimeter weit. Jess sah erst einen blonden Haarschopf, dann Annies Gesicht.
»Was machen Sie hier?«, fragte sie.
»Was machst du hier? Du solltest schlafen.«
Annie zog die Tür weiter auf und trat in die Scheune. Ihr Kapuzenpulli und die Hose waren mehrere Nummern zu groß. Die Kleidungsstücke waren Jess vertraut und brachten Erinnerungen zurück.
»Ich bin aufgewacht und konnte Sie nicht finden. Da hatte ich Angst, Sie hätten uns allein gelassen. Dann habe ich nach draußen geguckt und gesehen, dass hier Licht ist.«
»Warum hast du gedacht, ich würde euch allein lassen?«
Sie zuckte die Achseln.
Er bemerkte, dass sie barfuß war. »Hast du keine Schuhe gefunden?«
»Mir geht’s gut.«
Trotz der Wehen hatte die Kuh den Kopf jetzt in die andere Richtung gedreht und schaute Annie an.
»Sie wird jeden Moment kalben«, sagte Jess.
»Wie spät ist es?«
Er schaute auf seine Armbanduhr. »Nach drei Uhr morgens.«
Sie zitterte, und Jess stand auf und holte einen zweiten Eimer und eine alte Armeedecke aus der Werkstatt. »Komm her, wenn du möchtest. Setz dich. Du kannst die Decke um deine Füße wickeln.«
Annie nickte und setzte sich neben ihn. Trotz ihrer viel zu großen Kleidungsstücke war er erneut erstaunt, wie klein sie war.
»Hast du schon mal gesehen, wie ein Kalb auf die Welt kommt?«
»Nein?«
»Bei einem anderen Tier?«
»Ein Junge aus unserer Straße hat einen Hund, der Welpen bekommen hat. Ich habe sie gesehen, als ihre Augen noch geschlossen waren. Für mich sahen sie wie ein paar Mäuse aus.«
»Hier kann’s gleich ziemlich zur Sache gehen«, sagte er. »Du musst selbst wissen, wie lange du bleiben möchtest.«
Sie antwortete nicht sofort. Er sah, wie erschöpft sie war. Ihre Augen waren halb geschlossen. »Ich bleibe noch ein bisschen.«
»Es ist schön, Gesellschaft zu haben.«
»Sie haben Mr Swann etwas über einen Zaun erzählt. Ich habe das nicht verstanden. War meine Mutter da, als sie angerufen haben?«
»Ich nehme es an, aber mit Sicherheit weiß ich es nicht. Tatsächlich bin ich nicht einmal sicher, ob ich überhaupt das Richtige getan habe.«
»Was werden Sie jetzt tun?«
Er blickte sie an. »Dieser Kuh helfen.«
»Morgen, meine ich. Was werden Sie tun?«
Er rieb sein stoppeliges Kinn. »Wahrscheinlich fahre ich in die Stadt, um herauszufinden, was los ist, aber ohne mir in die Karten blicken zu lassen.«
Sie wirkte etwas verwirrt.
»Ich meine, ich werde niemandem sagen, dass ihr hier seid, bis ich sicher bin, dass es ungefährlich ist. Wenn der Sheriff vernünftig wirkt und diese Excops nicht da sind, werde ich es ihm vielleicht erzählen. Zuerst muss ich aber noch ein bisschen Basisarbeit erledigen.«
»Basisarbeit. Was für ein komisches Wort.«
»Will sagen, dass ich ein paar Nachforschungen anstellen muss«, antwortete er geduldig. »Ich werde herausfinden, ob nichts dagegen spricht, dem Sheriff und deiner Mutter zu erzählen, dass ihr hier seid. Es irritiert mich immer noch ein bisschen, nichts von einem erschossenen Mann gehört zu haben. Irgendwas stimmt an der ganzen Geschichte nicht.«
»Wir haben ihn gesehen.«
»Ich weiß, dass du glaubst, ihn gesehen zu haben.«
»Nein.« Sie beugte sich vor. »Wir haben es gesehen. Ich könnte Sie genau zu der Stelle führen, wo es passiert ist. Und ich kann die Männer zeichnen, die es getan haben.«
»Wirklich?«
»Ich kann zeichnen.«
»Gut, morgen nach dem Frühstück. Ich möchte, dass du genau das tust.«
»Okay.« Sie schwieg ein paar Augenblicke. Dann: »Müssen Sie das jede Nacht machen?«
»Um diese Jahreszeit. Jetzt kommen die Kälbchen auf die Welt. Den Rest des Jahres kann ich meistens wie alle anderen schlafen. Es sei denn, die Kühe trampeln einen Zaun nieder, oder eine wird krank oder verletzt sich. Der Job eines Ranchers kann einen vierundzwanzig Stunden in Atem halten, Annie.«
»Meine Mutter hat auch einen Job. Sie arbeitet in einem Geschäft. Manchmal muss sie abends
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