Stumme Zeugen
und es störte ihn, dass die Zunge aus dem Hals hing. Wenn sie mich eines Tages tot finden, dachte er, dann hoffentlich mit geschlossenem Mund.
»Okay, bis dann.« Villatoro überquerte die Straße, warf zwei 25-Cent-Münzen in einen Zeitungsautomaten und betrat mit dem Kootenai Bay Chronicle das Panhandle Cafe. In der Tür warf er einen Blick über die Schulter. Der Mann mit dem Cowboyhut stand noch immer auf der anderen Straßenseite und begutachtete den toten Bären. Auf der Tür seines Pick-up stand rawlins ranches.
Genau, dachte Villatoro. Rawlins, nicht Rawlings.
Vor vielen Jahren hatte es eine Zeit gegeben, als der große runde Tisch in der Ecke des Panhandle Cafe morgens meistens für Rancher reserviert gewesen war. Jess erinnerte sich, wie glücklich er gewesen war, als sein Vater ihn von der Theke an den Tisch gewunken hatte und auf der halbmondförmigen Bank ein Stück zur Seite gerutscht war, damit er sich zu den Erwachsenen setzen konnte, die ihn gutmütig grummelnd aufnahmen. Sie hänselten ihn ein bisschen, weil er Kakao trank, und boten ihm stattdessen starken Kaffee an. Er trank ihn, saß schweigend und ehrfürchtig neben den Erwachsenen und lauschte. Das Gespräch drehte sich um Rinderpreise, Viehfutter, wilde Tiere, Politik, Viehhändler. Doch das war lange her. Schon als er seinen eigenen Sohn in den Kreis der Rancher aufnehmen wollte, hatte sich alles geändert. Jess junior hatte nur die Augen gerollt und
sich geweigert, sich zu den Männern zu setzen, die alles mitbekamen und betreten auf ihre Kaffeetassen starrten. Jess fühlte sich gedemütigt, doch es sollte nur die erste vieler weiterer Demütigungen sein, die ihm sein Sohn bereitete.
Als er jetzt das Panhandle betrat, saß eine Großfamilie an dem Tisch. Es waren Fremde, und ihre moderne Wanderkleidung deutete darauf hin, dass sie den Tag in der freien Natur verbringen wollten.
Er setzte sich auf einen Barhocker und legte seinen Hut mit der Oberseite nach unten auf die Theke. Am Ende der Bar umringten mehrere Gäste laut redend einen Mann in einem blutverschmierten Hemd. Der Bärenjäger.
»Was darf ich Ihnen spendieren?«, fragte der Bärenjäger, nachdem er sich den Bierschaum von den Lippen gewischt hatte.
»Ein Kaffee wäre nicht schlecht«, sagte Jess.
»Nichts Stärkeres? Ich habe einen Bären erlegt.«
»Ich hab’s gesehen«, sagte Jess. »Mein Glückwunsch, aber Kaffee ist genau richtig.« Er sagte nicht: Ich habe schon vor einer Weile mit zwei vermissten Kindern gefrühstückt.
Villatoro saß in einer Nische und beobachtete die Szene an der Bar, während er auf seinen Kaffee wartete. Irgendetwas an Rawlins nötigte ihm Bewunderung ab, eine Art stiller Würde, die etwas zugleich Solides und Altmodisches hatte. Er wünschte, er hätte sich ihm vorgestellt, aber der tote Bär hatte ihn völlig verwirrt. Er konnte es im Anschluss an das Frühstück nachholen.
Er schlug die Zeitung auf. Das alles beherrschende Thema war das Verschwinden der Taylor-Kinder. Auf der Titelseite
waren die Fotos abgebildet, die er schon in der Bank und im Büro des Sheriffs gesehen hatte. Unter der Überschrift SIE SAH DIE KINDER ZULETZT fand sich das Foto einer Postbotin namens Fiona Pritzle, jener Frau, die Rawlins in der Bank am Ärmel gepackt hatte. Er las einen Teil des Interviews. Pritzle sagte, sie habe »das Gefühl gehabt, dass etwas nicht stimme«, als sie die Geschwister mit der Angelrute in der Nähe des Flusses abgesetzt habe. »Ich hätte mich auf meine Intuition verlassen und sie nach Hause bringen sollen«, fügte sie hinzu. Sie schien sich etwas schuldig zu fühlen, relativierte ihr Eingeständnis jedoch wieder: »Aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass die Kinder ohne die Erlaubnis ihrer Mutter ausgerissen waren.«
Die arme Mutter, dachte Villatoro kopfschüttelnd. Jetzt muss sie sich auch das noch anhören. Er blätterte die Seite um und fand auf der nächsten ein Bild von Monica Taylor. Eine attraktive Frau. Sie hatte sich geweigert, dem Chronicle ein Interview zu geben. Stattdessen gab ein gewisser Oscar Swann, der sich als ihr »Sprecher« bezeichnete, zu Protokoll, sie stehe unter dem Einfluss von Medikamenten und sei nicht in der Verfassung, um sich öffentlich zu äußern.
Der Name Swann kam Villatoro bekannt vor. Er spürte sein Herz schneller schlagen. War es möglich, dass zwei von ihnen hier oben lebten, und konnte das ein Zufall sein? Er glaubte es nicht.
Er unterstrich den Namen, bevor er weiterlas. Sheriff
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