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Stumme Zeugen

Titel: Stumme Zeugen Kostenlos Bücher Online Lesen
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arbeiten, aber nie um vier Uhr morgens.«
    Wieder herrschte für ein paar Augenblicke Schweigen. Jess beobachtete die Kuh. Gleich war es so weit. Flüssigkeit lief an einem ihrer Beine hinab.
    »Es dauert nicht mehr lange«, sagte er.
    »Wo ist Ihre Frau?«, fragte Annie.
    Jess schnaubte. »Ganz schön direkt.«
    »Wo ist sie?«, fragte sie nachdrücklich.
    Als er antwortete, ließ sie weder den Kopf hängen, noch täuschte sie Betroffenheit vor. Sie wollte einfach nur wissen, warum er allein lebte.
    »Sie hat mich verlassen.« Die Worte schienen noch lang nachzuhallen. Er mochte es nicht, sie auszusprechen, und tatsächlich hatte er sie auch zum ersten Mal überhaupt ausgesprochen. »Ich denke, sie hat hier keine Zukunft für sich gesehen, und wahrscheinlich hatte sie recht«, sagte er. »Sie ist eine ehrgeizige Frau, und nachdem unser Sohn weggezogen war, blieb ihr nicht mehr viel zu tun. Vielleicht hätte ich mich ein bisschen mehr ändern müssen. Aber ich dachte vermutlich, ich wäre zu alt, um mich noch zu ändern, und dass ich noch derselbe Mann sei, den sie geheiratet hatte. Da habe ich mich wohl geirrt.«
    »Wo ist Ihr Sohn?«
    »Jess junior? Der ist noch in der Nähe, aber krank. Eine Zeit lang war er in einer Entziehungsanstalt, aber auch im Gefängnis. Er hat Drogen genommen, gefährliche Drogen. Er ist nicht mehr ganz da, will ich damit sagen. Keine schöne Geschichte.«

    Mein Gott, dachte er. Warum erzähle ich das alles einem kleinen Mädchen?
    »Warum haben Sie nicht mehr Kinder?«
    »Ich wollte schon, mindestens noch zwei. Vielleicht ein oder zwei kleine Mädchen. Ich habe mit meiner Frau darüber gesprochen, aber sie sagte, sie will nicht noch ein Kind in diese Welt setzen. Jetzt weiß ich, dass sie nicht die Welt, sondern diese Ranch meinte. Sie meinte mich.«
    Ihm wurde bewusst, dass er zu viel gesagt hatte, und er wandte das Gesicht ab.
    »Machen Sie die ganze Arbeit hier allein?«
    »Im Moment schon. Meinen Vorarbeiter musste ich vor ein paar Tagen entlassen.«
    »Was ist, wenn Sie krank werden oder sonst was passiert?«
    »Dann bleibt die Arbeit liegen.«
    »Das ist nicht gerecht.«
    »Warum sollte es nicht gerecht sein? Man hat kein Anrecht darauf, für nichts Geld einzustreichen.«
    »Es scheint mir einfach nicht richtig zu sein«, sagte sie etwas verunsichert.
    »Ich habe nicht gesagt, dass es richtig ist, sondern dass es gerecht ist.«
    Sie schwieg. Offenbar beschäftigte sie etwas anderes. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass Billy nicht mein Vater ist. Er ist Williams Vater, aber nicht meiner. Eines Tages möchte ich herausfinden, wer mein Vater ist. Woher ich komme.«
    Jess hatte keine Ahnung, was er darauf erwidern sollte.
    Ihr prüfender Blick glitt von seinem Gesicht zu der Kuh hinüber.

    »Was ist das?«
    »Das erste Anzeichen dafür, dass ein Kälbchen zur Welt kommt. Mama versucht, es hinauszupressen, damit sie sich darum kümmern kann.«
    Ein Schwall von Fruchtwasser platschte auf den Boden.
    »Los geht’s.« Er streifte Latexhandschuhe über. »Hilf mir, ein Kalb auf dieser Welt willkommen zu heißen, Annie.«
    »Wow«, sagte sie. »Ein neugeborenes Kälbchen. Trotzdem, ziemlich unappetitlich.«
    »Das Leben ist schmutzig«, sagte Jess, dem zu spät bewusst wurde, dass man seine Worte leicht missverstehen konnte.

Sonntag, 7.05 Uhr
    Als die Sonne hinter den Bergen auftauchte, fuhr Villatoro in seinem gemieteten Kleinwagen auf dem Highway in Richtung Westen. Er wollte sich umsehen, ein Gespür für die ungewohnte Umgebung entwickeln. Sein Rücken war verspannt von dem zu weichen Bett, und sein Magen rumorte, weil er noch nicht gefrühstückt hatte. Aufgewacht war er schon um fünf. Auf dem Bett sitzend, hatte er eine Kanne schlechten, dünnen Kaffee getrunken und sich dabei im Fernsehen ein morgendliches Fitnessprogramm angeschaut. Er fuhr am Ufer des im Nebel liegenden Sees entlang, tauchte in einen dunklen Wald ein, kam auf einem geraden Stück Straße wieder heraus und überquerte eine alte Brücke, die über den in den See mündenden Fluss führte.
Zu seiner Linken erhoben sich steil bewaldete Berge. Die Straße war von dichtem Unterholz und kniehohen Gräsern gesäumt, auf denen Tautropfen im Sonnenlicht glänzten. Es roch nach feuchtem Kiefernholz.
    Allmählich wuchs Villatoros Verständnis für Kootenai Bay und seine Umgebung. Die ganze Gegend befand sich in einem Übergangsstadium, mit einer veränderten Bevölkerungsstruktur und sich aneinanderreibenden Lebensstilen. An

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