Stumme Zeugen
Buddy ist in Ordnung. Vertrauenswürdig. Vielleicht kann er mir helfen, die Lage zu verstehen.
»Buddy …«
Das Telefon klingelte. Buddy hob eine Hand und griff mit der anderen nach dem Hörer. Jess wartete und versuchte, sich seine Worte zurechtzulegen. Er fragte sich, ob es nicht besser wäre, draußen mit Buddy zu reden. Vielleicht konnte er ihn ein Stück weit einweihen und mehr über das Geständnis in Erfahrung bringen, durch das eine verwirrende Situation noch verworrener geworden war.
Buddy beruhigte den Anrufer und notierte eine Adresse auf seinem Notizblock.
»Okay, Ma’am. Hat er ein Handy dabei? Haben Sie es in seinem Hotel versucht?«
Buddy blickte Jess an und hob die Augenbrauen, während der Anrufer auf ihn einredete.
»Tut mir leid, eine Vermisstenanzeige können Sie erst aufgeben, wenn er vierundzwanzig Stunden verschwunden
ist«, sagte er. »In 99,9 Prozent dieser Fälle stellt sich heraus, dass alles in Ordnung ist. Aber ich habe mitgeschrieben und leite die Informationen an den Sheriff weiter. Ich selbst setze mich gleich morgen früh mit Ihnen in Verbindung. Aber wenn er wieder auftaucht, rufen Sie uns bitte sofort an.«
Buddy legte auf und schrieb noch etwas auf seinen Block. »Diese Frau sagt, ihr Mann sei nicht von einem Angelausflug zurückgekehrt. Sie will, dass wir ihn suchen. Als hätten wir nicht schon alle Hände voll zu tun. Ich wette, dass er heute Abend wieder zu Hause ist. Vielleicht hat er eine Panne gehabt. Noch wahrscheinlicher ist, dass er in einer Kneipe oder einem Stripteaseklub über die Stränge geschlagen hat. Außerdem wette ich, dass sie nicht anruft, wenn er wieder da ist.«
Seine Worte hatten Jess mit der Wucht eines Hammerschlages getroffen. Ihm war bewusst, dass er zusammengezuckt war, doch glücklicherweise schien Buddy nichts bemerkt zu haben.
Ein Mann wurde vermisst.
Er hatte beschlossen, Buddy auf einen Kaffee einzuladen.
»Sie sagt, ihr Mann sei Polizist im Ruhestand und bisher noch nie zu spät nach Hause gekommen, ohne anzurufen.«
»Ist er einer von den Excops aus L. A.?«, fragte Jess. Sein Mund war plötzlich völlig ausgetrocknet.
»Zumindest sagt sie das. Warum?«
Jess fiel keine plausible Lüge ein. Das war noch nie seine Stärke gewesen. Er warf einen Blick auf Buddys Notizblock und prägte sich den Namen ein.
»Ist unwichtig.«
Jess war etwas übel, und er suchte die Toilette auf, wo er sich kaltes Wasser ins Gesicht spritzte und sich mit einem Papierhandtuch abtrocknete. Er stand auf wackeligen Beinen, und in der verletzten Hand spürte er einen pochenden Schmerz.
Er hörte, wie ein Schrubber in einen Eimer getaucht wurde und sah den Mann in dem orangefarbenen Overall. Für einen Augenblick schloss er die Augen. Auch das noch, im Moment wurde ihm alles zu viel.
Der Mann schrubbte weiter, mit gesenktem Kopf, das schulterlange Haar hing ihm ins Gesicht. Er erweckte den Eindruck, als wollte er nicht gesehen werden.
»J. J.?«
Der Mann hielt mit der Arbeit inne und schaute Jess durch die Haarsträhnen an. Der erinnerte sich, wie ihm beim Anblick des Fotos von Annie der Gedanke gekommen war, dass das Gesicht eines Kindes schon auf den künftigen Erwachsenen schließen ließ. Seinerzeit war es ihm nicht bewusst gewesen, doch wenn er heute die alten Schulfotos anschaute, wurde ihm klar, dass es stimmte. Sein Sohn hatte schon früh selbstzerstörerische Tendenzen gezeigt und den Kontakt zur Umwelt verloren. Seine Krankheit war angeboren, aber erst in der Jugendzeit manifest geworden und im ersten Jahr auf dem College ausgebrochen. Die Ärzte diagnostizierten paranoide Schizophrenie und nannten andere Fachtermini, an die Jess sich nicht mehr erinnern konnte. Der Junge hatte schon immer auffällige Verhaltensweisen gezeigt - er führte Selbstgespräche, putzte sich die Zähne, bis das Zahnfleisch blutete, und ließ es seit seinem zwölften Lebensjahr nicht mehr zu, dass ihn jemand berührte.
Dann wurde es schlimmer. Halluzinationen, Tobsuchtsanfälle. Einmal hatte er ein paar Kätzchen ersäuft, weil deren Mutter angeblich versucht hatte, ihn im Schlaf zu ersticken. Er setzte auf chemische Substanzen, um die Welt um sich herum zu ändern, sie seinen Vorstellungen anzupassen. In einem gewissen Ausmaß hatte er damit Erfolg gehabt. Es hätte nie zu J. J. gepasst, mit den anderen Ranchern gemeinsam im Panhandle zu frühstücken.
»Erkennst du mich, Jess junior?«
Sein Sohn starrte ihn mit trüben Augen an. Durch die Medikamente war er zwar
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