Stumme Zeugen
in der Lage, während seiner Haftstrafe zu arbeiten, aber sie machten ihn passiv und stumpf. Doch ohne sie wurde er zu einer Gefahr für sich selbst und andere.
»Dad.«
»Wie geht’s dir, mein Sohn?«
Ein leises Lächeln. »Nicht gut.«
»Wie’s aussieht, musst du ganz schön ran.«
»Ich mach nur sauber.«
Jess versuchte, seine Stimme aufmunternd klingen zu lassen. »Sonst alles in Ordnung?«
Es dauerte einen Moment, dann schüttelte J. J. den Kopf. Jess trat einen Schritt auf ihn zu, aber sein Sohn streckte den Schrubber aus, um ihn zurückzuhalten. »Fass mich nicht an.«
»Wollte ich nicht. Ich weiß, wie sehr du es hasst. Was stimmt denn nicht?«
Es dauerte eine volle Minute, bis er die Frage verdaut hatte und darum rang, eine Antwort zu formulieren. Sein mühsamer Kampf um die richtigen Worte brach Jess das Herz.
»Es gibt hier ein paar schlechte Männer, Dad.«
»Kein Wunder, wie sollte es im Gefängnis anders sein.«
J. J. riss die Augen auf und schüttelte energisch den Kopf. »Nein, die meine ich nicht.«
»Wen denn? Die ehemaligen Cops?« Er zog Annies Zeichnung aus der Tasche und zeigte sie ihm. »Meinst du die?«, fragte er. Ein Blick auf das beunruhigte Gesicht seines Sohnes ließ ihn die Antwort bereits erahnen.
J. J. nickte hektisch. »Das sind schlechte Menschen.«
Jess’ Augen wurden feucht. »Ich glaube dir, mein Sohn.«
»Nicht berühren.«
»Nein, Junge.«
Nachdem er seine Sachen zurückerhalten hatte, fand Jess in der Eingangshalle des Gebäudes einen Münzfernsprecher. Er versuchte, die Erinnerung an das Zusammentreffen mit seiner Exfrau und seinem kranken Sohn zu verdrängen, zog Villatoros Karte aus der Tasche und rief ihn an. Es war besetzt, und er sprach auf die Mailbox.
»Guten Tag, Mr Villatoro, hier ist Jess Rawlins. Ich weiß nicht, ob es etwas zu bedeuten hat, aber vielleicht sollten Sie zusätzlich den Namen eines weiteren ehemaligen Polizisten überprüfen. Ich buchstabiere …«
Die Lage war jetzt zugleich klarer und schlimmer, sehr viel schlimmer, aber immerhin wusste er nun mit Sicherheit, auf welcher Seite er stand.
Sonntag, 11.40 Uhr
Newkirk durchwühlte Monica Taylors Eisschrank. Nicht, weil er Appetit gehabt hätte, sondern weil ihm bewusst war, dass er unbedingt etwas zu sich nehmen musste - etwas anderes als Whiskey. Seine Hände zitterten, als er einen halb vollen Milchkarton zur Seite schob und nach etwas suchte, das er sich aufwärmen konnte. Er blickte ins Gefrierfach und sah außer Schalen für Eiswürfel nur eine mit Aluminiumfolie bedeckte Auflaufform. Er tippte mit dem Finger darauf. Steinhart gefroren.
Er war genervt von dem Telefongespräch mit seiner Frau, das er eben geführt hatte. Maggie war stinksauer, als er ihr sagte, sie brauche vorläufig nicht mit ihm zu rechnen. Sie erinnerte ihn an das Baseball-Frühjahrstraining ihres Sohnes und daran, dass sie gemeinsam im Gemüsegarten arbeiten wollten. Angesichts der augenblicklichen Lage klingt das alles so nichtig, dachte er. Er fühlte sich an die schlechte alte Zeit beim LAPD erinnert, als sie auch immer wütend gewesen war, wenn er wegen eines wichtigen Falles nicht mit ihr vor dem Fernseher sitzen konnte. Jetzt ging alles wieder von vorn los. Er hatte geglaubt, all das mit dem Fortzug aus L. A. hinter sich gelassen zu haben - die Spannungen, den Groll, die Streitereien. Alles war wieder wie früher. Seine Frau lebte in einem Haus, von dem sie vor ein paar Jahren nur hätte träumen können, und hatte praktisch nichts zu tun. Für sie war es ein harter Tag, wenn sie einen Gymnastikkurs besuchte oder den Gemüsegarten umgrub. Zum Teufel mit ihr, dachte Newkirk. Sie hat keine Ahnung, was ich durchmache,
ihr Blick reicht nicht weiter als bis zu ihren falschen Wimpern.
Monica Taylor saß im Wohnzimmer auf dem Sofa und starrte ins Leere. Trotzdem wirkte sie auf eine unfassbare Weise gelassen. Das passt nicht angesichts der Umstände, dachte Newkirk. Irgendwas stimmt nicht mit ihr. Er fand sie attraktiver als erwartet. Jetzt, wo sie so sicher war, dass ihre Kinder noch lebten, war sie unerträglich. Und er traute ihr nicht. Fast schien es, als wüsste sie, was Singer, Gonzales, Swann und er vorhatten. Ausgeschlossen, sie konnte es nicht wissen.
Er knallte die Tür des Kühlschranks so hart zu, dass im Inneren eine Flasche zerbrach. »Haben Sie nichts zu essen?«, rief er aus der Küche.
»Bitte?«
Newkirk stürmte ins Wohnzimmer. »Ich bin halb verhungert. Seit zwei Tagen habe ich
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