Stumme Zeugen
Der Grund war ganz einfach. Er glaubte Annie.
Trotzdem, hundertprozentig sicher war er sich noch nicht. Er benötigte weitere Informationen. Was war auf dem Video? Er musste es herausfinden. Erst dann würde er eine Entscheidung treffen.
Als er an Brian Ballards Maklerbüro vorbeikam, beschleunigte er seinen Schritt, doch sie sah ihn.
»Jess?«
Er überlegte, ob er stehen bleiben oder weitergehen sollte. Jetzt wünschte er sich, doch mit dem Pick-up zum Büro des Sheriffs gefahren zu sein. Damit hätte er diese Möglichkeit ausgeschlossen.
»Jess?«
Er blieb stehen, schob die Hände in die Taschen und schaute sie an. Teufel, sie sah wirklich gut aus, schlank und sportlich. Schwarze Hosen, weiße Bluse und ein passender Blazer. Ihr Lippenstift war einen Hauch heller als früher, das dunkle Haar zurückgebunden. Keine grauen Strähnen, sie musste es gefärbt haben. So gut hatte sie nie ausgesehen, als sie noch bei ihm auf der Ranch gelebt hatte.
»Hallo, Karen.«
»Ich war überrascht, dich durchs Fenster zu sehen.«
»Du arbeitest sonntags?«
»Wir haben um elf einen Termin. Ich warte auf die Käufer. Was hast du denn mit deiner Hand gemacht?«
»Nur ein kleines Malheur mit der Heusichel.« Er hoffte, dass das Thema damit erledigt war.
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Er erwartete keine Umarmung, und doch war die Situation seltsam. Sie standen nur zwei Schritte voneinander entfernt, aber der Abstand kam ihm wie ein Kilometer vor.
»Weshalb bist du in der Stadt?«
»Ich wollte zum Rathaus.«
»Das hat sonntags geschlossen.«
»Nicht das Büro des Sheriffs.«
»Oh.« Sie musterte ihn eingehend, offenbar überlegend, was wohl als Nächstes kommen würde.
»Ich wollte nachfragen, ob es Neuigkeiten über die Taylor-Kinder gibt.« Eine Lüge war das nicht.
»Ist das nicht furchtbar?«, fragte sie kopfschüttelnd. »Niemand kann sich erinnern, dass bei uns jemals so etwas passiert wäre. Ich hoffe, dass sie die Kinder finden und dass es ihnen gut geht. Eine schreckliche Geschichte.«
»So ist es.«
Sie studierte noch immer seine Miene. »Du hast den ganzen Weg auf dich genommen, um dich nach ihnen zu erkundigen?«
»Ich habe im Panhandle gefrühstückt«, stammelte er. »Erst da ist mir die Idee gekommen.«
»Gehst du nur deshalb dorthin?«
Ihm war klar, was sie meinte, und er wandte den Blick ab. Daran hatte er nicht gedacht. Ein vertrautes Schuldgefühl
beschlich ihn, und er wusste nicht, was er sagen sollte. Er schwieg einen Moment zu lang.
»Das Reden ist dir noch nie leichtgefallen.«
Er spürte, wie seine Hände feucht wurden. Zum Glück wechselte sie wieder das Thema.
»Diese Monica Taylor«, sagte sie. »Ich habe einiges über sie gehört.«
Er starrte sie an.
»Ihr Exmann war im Gefängnis. Sie ist ganz schön umtriebig. Ihr Ruf ist nicht besonders gut.«
»Einen schlechten Ruf kann man loswerden«, sagte Jess. Ihre Miene verfinsterte sich. »Was willst du damit sagen?«
»Nichts. Vergiss es.«
»Kannst du es nicht endlich vergessen? Mittlerweile ist es drei Jahre her.«
Er schaute auf seine Stiefel. Nein, dachte er, ich kann nicht. Es ging nicht darum, dass er sie zurückhaben wollte, das war vorbei. Es ging um die Jahre, in denen sie ihn betrogen hatte. Um die geheimen Briefe, die Anrufe, die Seitensprünge. Wie hätte er das vergessen sollen? Wie gingen andere damit um? Rückblickend konnte man festhalten, dass seine vage Hoffnung, den Stammbaum gedeihen zu lassen, an Karens dunkler Seite gescheitert war.
Die Tür des Maklerbüros öffnete sich, und Brian Ballard trat heraus, ihr neuer Ehemann. Er war gekleidet wie am Freitag - offenes Hemd, Jackett, zerknitterte Baumwollhosen, elegante Schuhe.
»Alles in Butter mit euch beiden?«, fragte er jovial. »Erkundigst du dich, ob er verkaufen will?«
Karen ließ Jess nicht aus dem Blick. »Zu dem Thema sind wir noch nicht gekommen.«
»Ich verkaufe erst, wenn es sich absolut nicht vermeiden lässt«, sagte Jess. »An meiner Haltung hat sich nichts geändert.«
Ballard legte einen Arm um Karen und zog sie an sich, als wollte er Sie gehört mir sagen. »Wir könnten über alles reden und die Angelegenheit gütlich regeln, ohne Animositäten.«
»Im Moment bin ich beschäftigt.«
Ballard schaute Karen mit einem fragenden Blick an, doch sie fixierte weiter Jess, mit einem starren, konzentrierten Blick, als könnte sie ihm so seine Geheimnisse entlocken. »Was ist los, Jess?«, fragte sie. »Ich sehe doch, dass etwas
Weitere Kostenlose Bücher