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Stumme Zeugen

Titel: Stumme Zeugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: authors_sort
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mich nicht ein.«
    »Mir würde nicht im Traum einfallen, mich nach so etwas zu erkundigen«, sagte Villatoro lächelnd. »Aber ich sehe diese Gegend als einen Ort, wo zwischen einer Million Bäume ein paar Menschen umherirren. Irgendwie gelingt es mir nicht, das ganze Bild zu sehen, es ist alles zu fremd. Es ist so, als würde man Sie mutterseelenallein in East L. A. aussetzen. Sie wüssten dort nicht, was Sie tun, wohin Sie sich wenden sollten.« Er zeigte auf den Bär. »Auch im Großstadtdschungel gibt’s Raubtiere. Aber sie tragen das Outfit ihrer Gang und Waffen. Für Sie wäre das auch eine völlig fremde Welt.«
    Jess schwieg. Er war immer der Ansicht gewesen, dass Landbewohner sich leichter in der Großstadt zurechtfanden als Großstädter auf dem Land.
    »Nur ein Beispiel.« Villatoro zeigte in Richtung Osten. »Ich sehe da nur Berge mit einer Unmenge von Bäumen. Wahrscheinlich steckt mehr dahinter, aber es entgeht mir.«
    Jess wandte sich um. »Das da drüben ist der Webb Mountain«, sagte er. »Sehen Sie diesen großen Flecken, wo das
Grün heller ist? Das sind Espen. Vor zwanzig Jahren hat es dort einen Waldbrand gegeben, und Espen wachsen am schnellsten nach. Irgendwann werden wieder die Kiefern die Vorherrschaft übernehmen, doch das kann Jahrhunderte dauern. Es gab mal Pläne, auf dem Webb Mountain einen Urlaubsort für Wintersportler entstehen zu lassen, aber die Umweltschützer haben es verhindert. Die Gegend ist ein gutes Habitat für Bären. Vermutlich hat unser Jäger seine Beute dort erlegt.«
    »Genau das meine ich«, sagte Villatoro lächelnd. »Ich sehe nur einen Berg, der seinen Nachbarn zum Verwechseln ähnlich ist. Sie kennen seine Geschichte und haben die passende Story parat.«
    Jess wollte die Tür des Pick-up öffnen, überlegte es sich jedoch anders. Sein Ziel konnte er gut zu Fuß erreichen.
    »Genau deshalb ist dieses Land so erstaunlich«, sagte Villatoro. »Es ist so groß und immer anders. Man wird es nie richtig kennenlernen.«
    Jess unterdrückte ein Lächeln. »Sie sind ein interessanter Mann, Mr Villatoro.«
    »Ich fühle mich wie ein Fisch auf dem Trockenen. Aber ich bin zu allem entschlossen.«
    »Das glaube ich«, sagte Jess. »Übrigens fühle ich mich ganz ähnlich wie Sie.«
    Sie gaben sich zum Abschied die Hand.
     
    Da das Büro des Sheriffs nur zwei Straßenecken entfernt lag, ging Jess zu Fuß. Er war etwas verwirrt und brauchte ein paar Minuten, um sich einen Plan zurechtzulegen. Alles war so unübersichtlich, er musste sich orientieren. Begonnen
hatte es damit, dass er Herbert Cooper kündigen musste. Sein Wegzug von der Ranch bedeutete den Abschied von alten Lebensgewohnheiten. Angesichts all der Probleme, denen sich ein Rancher gegenübersah - das Wetter, Erzeugerpreise, Naturkatastrophen, Vorschriften, unzuverlässige Angestellte -, war das Festhalten an einer Routine eine Notwendigkeit. Alle Aufgaben mussten zu bestimmten Zeiten erledigt werden. Eine Ranch konnte man nicht bequem im Sitzen führen. Und jetzt, nach Herberts Abschied und der Ankunft der Kinder, fühlte er sich aus allen vertrauten Verhältnissen herausgerissen und verunsichert.
    Ob der Mord gemeldet worden war oder nicht - oder ob er sich überhaupt ereignet hatte -, alles andere, das er an diesem Morgen gehört hatte, schien eher Annies und Williams Schilderung der Ereignisse zu bestätigen. Dazu passte auch der Gedanke, die Excops könnten einen Mord begangen und sich dem Sheriff zur Verfügung gestellt haben, um die Ermittlungen in ihrem Sinn zu lenken und unter Kontrolle zu behalten. Ebenfalls logisch erschien die Idee, Monica Taylor von einem ihrer Leute beaufsichtigen zu lassen. Doch ohne Leiche konnte Annies und Williams Geschichte als Produkt einer allzu regen kindlichen Fantasie abgetan werden. Es hing alles ab von einem Mord, der angeblich gar nicht geschehen war, und von einem Toten, den niemand vermisste.
    Als er über die möglichen Konsequenzen seines bisherigen Verhaltens nachdachte, fühlte er einen Stich ins Herz. Falls die Geschichte der Kinder sich als wahr herausstellte, hatte er sich durch sein Schweigen schuldig gemacht, was möglicherweise sogar ein strafbares Delikt war. Für die Mutter
war jede weitere Stunde grausam, in der er sein Geheimnis für sich behielt.
    Und was war auf dem Video zu sehen, von dem Newkirk dem Sheriff erzählt hatte?
    Was hielt ihn davon ab, im Büro des Sheriffs zu sagen, er wisse, wo die Kinder seien, und jemanden zu seiner Ranch mitzunehmen?

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