Stummer Zorn
übergehen. Ich wußte, was sie meinte.
„Wie geht es dir mit dem, was mit mir passiert ist, Alicia?" fragte Ich neugierig. Alicia machte den Eindruck, durchschaubar zu sein, aber ich hatte gerade eben bemerkt, daß sich ihre wahren Gefühle sehr von dem unterschieden, was ich erwartet hatte. Die zivilisierte Alicia hatte ihre wilde Ader gezeigt.
Sie rutschte unruhig auf ihrem Stuhl herum. Mir wurde klar, daß Ich eine Nordstaatenfrage gestellt hatte oder zumindest eine nicht südstaatentaugliche. Ihre Lippen wurden schmal wie Klingen. Aber das Bier, die Lieblichkeit des kühlen Tages oder daß wir Frauen zu-sammensaßen führte dazu, daß sie ehrlich antwortete.
„Ich habe furchtbare Angst", sagte sie geradeheraus. „Furchtbare Angst. Wißt ihr, ich bin die meiste Zeit alleine, weil Ray soviel unterwegs ist. Warum mußte es dir passieren, so nah an meinem Zu Hause? Wenn es eine Negerin in der Vorstadt gewesen wäre" — ich merkte, wie Mimi zusammenzuckte —, „na ja ... so was passiert da unten ständig. Es war schlimm genug mit dem jungen Mädchen diesen Sommer, schlimmer, als es Barbata Tucker traf. Aber dann mußte es zwei Häuser weiter passieren - jemandem, den ich seit Jahren kenne."
Nach all dieser Direktheit hielt Alicia sich die Hände vor das Gesicht um wieder Haltung anzunehmen. Sie seufzte, ließ die Hände sinken und sah mich zum ersten Mal an diesem Nachmittag direkt an. „Manchmal ist es so, als wäre ich einfach böse auf dich, weil es dir passiert ist - nicht jemandem, bei dem ich es einfach abhaken kann", sagte sie. Wir starrten einander eine Weile ins Gesicht. Ihre blauen Augen gaben nach; sie seufzte. „Da hast du's, ich hab's tatsächlich gesagt und wahrscheinlich deine Gefühle verletzt, und das ist nicht christlich. Du hättest mich nicht in die Ecke drängen sollen. Ich habe dich wirklich gern, aber du hättest mich nicht in die Ecke drängen sollen. Vergiß, was ich gesagt habe. Du hast Wichtigeres zu tun, als dich darum zu sorgen, was ich denke. Ich werde einfach bei meinen Ausschüssen bleiben", sagte sie mit einem herrlich ironischen Gesichtsausdruck, „und diese Stadt am Laufen halten, bis ich ein Baby bekomme."
Sie setzte ihre Heiterkeit wieder auf, wie man einen Lieblingspullover anzieht. „Ich muß los", sagte sie fröhlich. Sie stand auf, sammelte ihre Bierdosen ein, um sie auf dem Weg durchs Haus in der Küche zu entsorgen, gab mir einen Kuß auf die Stirn und enteilte.
„Ich habe einen Fehler gemacht", sagte ich zu Mimi.
„Nein, hast du nicht. Deine Krise hat sich einfach ausgebreitet. Das alte ,Stein-im-Teich'-Prinzip. Krisen tun das immer. Es ist nicht nur deine. Es ist jedermanns."
„Das läßt mich mich schuldig fiihlen."
„Dann bist du eine echte Südstaatlerin, trotz deiner Nordstaatengewohnheiten", erklärte mir Mimi feierlich.
Wir lachten beide, was Maos erwähltes Opfer aufscheuchte, und unter aufgeregtem Schimpfen davonfliegen ließ. Ich merkte, daß ich zum ersten Mal in dieser Woche lachte. Mao sah uns vorwurfsvoll an;
Mimi versprach ihm einen zusätzlichen Happen Katzenfutter zum Abendessen. Dann hielt Cullys Auto auf dem Kiesvorplatz neben Mimis, und er stieg mit dem Arm voller Kleidung aus. Der Nachmittag ging unter Schleppen, Heben und Ordnen dahin.
Nach dem Abendessen (ich kochte Cully zu Ehren paniertes Beefsteak, eines seiner Lieblingsessen) zogen wir Pullover über und kehrten auf die Veranda zurück, um die Dämmerung anzuschauen. Es wurde immer schneller dunkel, da sich das Jahr dem Ende zuneigte. Nachdem wir uns in den Gartenstühlen, die über den Winter noch eingelagert werden mußten, niedergelassen hatten, sagte keiner von uns ein Wort. Wir waren drei Menschen, die sich seit langer Zeit kannten und die stumme Gegenwart der jeweils anderen genossen, den Abend, unseren Platz in der Welt. Zum ersten Mal dachte ich, ich könne wieder Frieden finden, der ausgewogene Glanz meines Lebens vor der Vergewaltigung könne zurückkehren.
In den beiden darauffolgenden Wochen begann Cully, sich an uns zu gewöhnen — und wir uns an seine männliche Gegenwart. (Das hieß in erster Linie, daß wir daran dachten, angezogen zu sein, wenn wir unsere Zimmer verließen.) Nachdem er nicht vor neun in seinem Büro im College sein mußte, ging er jeden Morgen um sieben Uhr dreißig raus zum Joggen. Ich hatte das Badezimmer ganz für mich allein, um mich für meinen Kurs um acht fertigzumachen.
Houghtons Gremien erholten sich vom Streß des
Weitere Kostenlose Bücher