Stunde der Vergeltung (German Edition)
überzeugt, dass das alles Unfug war. Man musste Rachel nur in die Augen schauen, um zu erkennen, dass das Mädchen blitzgescheit war und genau wusste, was um es herum passierte. Sie war einfach nur ein starrsinniger, misstrauischer kleiner Sturkopf, der es überhaupt nicht schätzte, seine geistigen Fähigkeiten von Fremden in weißen Kitteln beurteilen zu lassen. Tam konnte das absolut nachempfinden, bloß die Ärzte verstanden es nicht.
Rachel war fest entschlossen, alles nachzuholen, was ihr an Liebe und Zuneigung entgangen war, und niemand konnte ihr das verübeln, aber ihr Hunger nach Aufmerksamkeit gab Tam manchmal das Gefühl, als wäre das Kind um ihren Kopf gewickelt. Sie hatte Hilfe von Rosalia, der lieben, geduldigen Brasilianerin, die jeden Tag kam, um Tam ein bisschen stille Zeit zum Arbeiten zu verschaffen, nur wurde diese kostbare Zeit jedes Mal durch den einen oder anderen Notfall verkürzt, wenn sie nicht ganz draufging, aber so oder so reichte sie nicht annähernd aus. Tam konnte sich kaum mehr denken hören. Gott, sie bekam fast keine Luft mehr.
Und trotzdem. Dieses Kind gehörte zu ihr. Jeder andere hatte es im Stich gelassen, aber Tam würde das nicht tun. Niemals. Sie würde dafür sorgen, dass es funktionierte. Sie presste die Augen auf die Knie, bis sie von dem Druck schmerzten, aber immer noch sah sie die staubige Grube, in die sie ihre Mutter und ihre kleine Schwester geworfen hatten. Irina war zwei gewesen. Ihre Gesichter, so bleich und starr und still. Die Augen weit geöffnet. Erde, die auf sie niederprasselte. Entsorgt, wie Abfall.
Das Bild war in die Innenseiten ihrer Lider gestanzt.
Oh Gott. Ihre schlimmsten Erinnerungen überrollten sie mit der Wucht eines Güterzugs. Dies war der Preis, den sie dafür be zahlte, in den Tiefen ihrer Seele Zärtlichkeit für Rachel zu schürfen.
Ihr ganzes Leben lang hatte sie von Rache geträumt, nicht von Zärtlichkeit. Es brachte sie aus dem Gleichgewicht, raubte ihr die Kontrolle. Es verstörte sie. Rache war so viel einfacher und greifbarer. Rachegedanken konnte Tam mit ihrem hoch funktionstüchtigen Gehirn erfassen und spüren, wie sie sirrten, kreisten, arbeiteten.
Sie war eine fein abgestimmte Rachemaschine, darauf programmiert, Drago Stengl zu finden und den Geistern ihrer Vergangenheit Frieden zu schenken. Stattdessen versuchte sie jetzt einer verdammten Rachemaschine Zärtlichkeit für Rachel zu entlocken. Es war, als würde man mit einem Raketenabschussgerät Plätzchen backen. Als würde man Limonade aus Granaten statt aus Zitronen machen. Was für eine Herausforderung.
Plötzlich ertönte Rachels schrilles Teekesselkreischen. Tam schoss wie auf Sprungfedern hoch und rannte ins Schlafzimmer. Die Kleine flippte jedes Mal aus, wenn sie allein im Dunkeln aufwachte.
Tamara schlüpfte unter die Decke und rollte sich um den steifen kleinen Körper zusammen. Nachdem sie das Kind beschwichtigt hatte und es wieder eingeschlafen war, verbarg sie die Nase an Rachels Hals und inhalierte den Duft des Kindershampoos. Sie spürte, wie die Magie wirkte, wie ihre innere Anspannung nachließ. Wie sich diese weiche, warme Stelle gleich einer Blüte öffnete. Das Gefühl war unglaublich süß. Tam konnte ihm nicht widerstehen. Sie war zu erschöpft.
Da die Traumsequenzen nun verblassten, regte sich ihr typischer Eigensinn und breitete sich aus. Darüber war sie froh. Damit konnte sie viel besser umgehen.
Zur Hölle damit. Rachel mochte weder eine normale Mutter noch ein normales Leben haben, aber Tam würde sie verteidigen wie eine wilde Löwenmutter, sollte je wieder ein Mensch versuchen, ihr wehzutun. Das war etwas wert. Das zählte. Es musste zählen.
Dann war Rachel also problematisch. Und wenn schon. Jeder war das. Sie war aber auch zäh und stark. Tam würde alles versuchen, was man mit Geld kaufen konnte, um ihr zu helfen. Sie würde ihr ein klein wenig von dem zurückgeben, was diese mörderischen Scheißkerle ihr gestohlen hatten.
Rachel war nicht so kaputt, dass man sie wie ein Stück Abfall in ein Loch werfen sollte, begraben unter Gleichgültigkeit und bürokratischem Mist.
Nie und nimmer. Rachel war nicht so hoffnungslos beschädigt. Und selbst wenn sie es wäre, scheiß auf jeden, der seine kostbare Zeit und Energie nicht auf aussichtslose Fälle und beschädigte Ware verschwenden wollte. Zur Hölle mit ihnen allen.
Sie kuschelte sich an das Kind und atmete den Duft seines Haares ein, als wäre er reiner Sauerstoff in einem
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