Stunde der Vergeltung (German Edition)
dies hier der Traum. Ob sie jeden Moment aufwachen und sich wieder dort wiederfinden würde.
Es war ein Albtraum, der sie nicht losließ. Das Wissen, dass es solche Orte, solche Grausamkeit gab, solch monströse Selbstsüchtigkeit. Wenn man sie einmal erfahren hatte, konnte man die Gedanken daran nicht mehr abschütteln. Sie konnte lediglich versuchen, sich an dem kleinen Mädchen in seiner flauschigen roten Jacke auf der Spielplatzschaukel zu erfreuen und die finsteren Erinnerungen nach Möglichkeit auf Abstand zu halten.
Diese traurigen, düsteren Gedanken ernüchterten und erschreckten sie so sehr, dass sie mit Rachel am liebsten sofort in den sicheren Hafen des McCloud-Hauses zurückgelaufen wäre. Es war heute Abend voll von Menschen, Stimmen, Gelächter. Connors Brüder waren mit ihren Frauen zum Abendessen gekommen. Sie waren unglaublich nett zu ihr, aber ihre laute Art, ihre fröhliche amerikanische Ausgelassenheit, ihre Sturzbäche schwer verständlichen Englischs … oh je. Sie schüchterten Sveti schrecklich ein.
Sie würde tun, was sie immer tat: Sie würde sich zurückziehen und nützlich machen, indem sie mit den Babys spielte. Sie hatte Spaß daran, und jeder war ihr dankbar.
Rachel machte Theater, weil sie heimgehen sollte, also gab Sveti ein wenig nach. Sie wirbelte die Kleine ein weiteres Mal auf dem Karussell herum – eine letzte Runde zur Beruhigung, und das Kind jauchzte vor Vergnügen. Dann noch eine Kletterpartie im Seilnetz, drei weitere Male die Rutsche hinabsausen, schon war die Dämmerung der Dunkelheit gewichen.
Svetis Nacken begann zu prickeln. Plötzlich verspürte sie Angst, eine so übermächtige Angst, dass sie mit hastigen Schritten bei Rachel war und sie an sich riss. Das Mädchen wimmerte und fing an zu weinen.
Sveti begann, auf die entlegene Seite des Parks zuzulaufen, dabei behielt sie unentwegt die hell erleuchteten Fenster im Blick. Doch es erwies sich als Fehler, zu rennen. Dadurch wurde ein Panikschalter in ihr umgelegt, bis sie schneller und immer schneller rannte. Ihre Füße flogen dahin, aber ihre Knie waren wackelig vor Furcht.
Als der schwarze Sedan direkt vor ihr einscherte, kam sie mit einem Aufschrei schlitternd zum Stehen, fiel auf die Knie und rollte sich auf die Seite, um Rachel davor zu bewahren, überfahren zu werden. Sie landete schmerzhaft auf einem Handgelenk. Die ausgeliehenen Bücher verteilten sich über die frostige Wiese.
Beide Türen gingen auf, Männer sprangen heraus. Große Männer mit dunklen Skimützen und schwarzen Jacken, und großer Gott, sie kamen, um sie zu holen. Nein, das konnte nicht sein, das durfte nicht passieren, das war nicht möglich – nicht noch einmal.
Einer schnappte sich die kreischende Rachel. Sveti packte seinen Stiefel und klammerte sich daran fest. Er brüllte etwas, verlagerte das Gewicht auf den Stiefel, an dem Sveti hing, und trat ihr mit dem anderen in die Rippen.
Der Schmerz war unbeschreiblich. Er fuhr ihr in die Lungen und löste ihren Klammergriff. Der Mann entzog ihr seinen Fuß und versetzte ihr als Zugabe noch einen Tritt gegen das Bein. Schrille, hohe Entsetzensschreie ausstoßend, strampelte Rachel unter seinem Arm. Die Wagentüren wurden zugeschlagen. Sveti kämpfte sich hoch und warf sich auf das glänzende schwarze Auto, dabei stieß sie auf Ukrainisch die wüstesten Beschimpfungen aus, Ausdrücke, die sie von Yuri und Martina, ihren Gefängniswärtern, gelernt hatte. Schmutzige, hässliche, zornige Worte, von denen sie sich geschworen hatte, sie niemals zu gebrauchen. Als der Wagen mit quietschenden Reifen anfuhr, wurde sie zur Seite geschleudert, ehe sie ein weiteres Mal auf ihre blutigen Knie fiel.
Erst da kam ihr in den Sinn, einen Blick auf das Kennzeichen des sich entfernenden Fahrzeugs zu werfen, doch es war schlammverkrustet, und ihre Augen waren blind vor Tränen. Sie wischte sie fort und konzentrierte sich, konnte jedoch nur das erste A und den Umriss des Mount-Rainier-Symbols ausmachen. Das Kennzeichen stammte aus Washington.
Die Heckleuchten wurden zu zwei bösartigen roten Augen, die sie anfunkelten und verspotteten. Dann bog das Auto um die Ecke und verschwand.
22
Val öffnete die Augen und fand sich mit der Tatsache ab, dass die erotische Zärtlichkeit ihres Liebesspiels gestern Abend ein reiner Zufallstreffer gewesen war. Er konnte es nicht planen oder auch nur erhoffen.
Tamara war schon vor einer Weile aufgestanden. Offenbar leise wie ein Geist, denn es war ihr gelungen, ihn
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