Stunde der Wahrheit
nichts.
»Denk nicht mal dran«, warnte Eric und packte sie sicherheitshalber am Arm. »Das hier ist die übelste Gegend der Stadt. Wenn du hier alleine herumläufst, bist du innerhalb einer Stunde vergewaltigt oder tot.« Sie warf Eric einen entsetzten Blick zu und auch wenn der Hinterhof nur schwach beleuchtet war, konnte sie deutlich die Ernsthaftigkeit in seinem Gesicht erkennen. Er machte keinen Spaß.
»Du hast mich ins Ghetto verschleppt? Bist du verrückt?« Er antwortete nicht, sondern bedeutete ihr, leise zu sein. Dabei zog er sie auf eine abgewetzte Tür zu. Trotz der Dunkelheit konnte Emma deutlich erkennen, wie schäbig das Gebäude war. Von außen wie von innen. Der Putz des Treppengeländers und der Wände hatte eine grässliche ausgeblichene Farbe und bröckelte bereits seit Jahren ab. Auf dem Boden klebten undefinierbare Flüssigkeiten und das Treppenhaus versprühte einen unangenehmen bedrückenden Geruch.
»Es ist ekelhaft hier«, bemerkte Emma und riss sich von seinem Griff los. Er ließ es zu, behielt sie aber ganz genau im Auge. In der zweiten Etage angekommen, schloss er eine, alles andere als stabil wirkende Tür auf und stieß sie hinein. Emma hätte alles Mögliche erwartet: Bis zur Decke gestapelte Umzugskartons, eine unordentliche abgewrackte Wohnung oder ein leer stehendes, so gut wie nie bewohntes Zimmer. Doch als Eric das Licht anschaltete, warf sie ihm einen ungläubigen Blick zu. Er ignorierte sie, schälte sich aus seiner Lederjacke und hängte sie an die moderne Garderobe. Wie auch die danebenstehende Kommode war sie nicht hochwertig, aber auch nicht aus spärlichem Holz. Der Boden war aus hellbraunem Laminat und die Wände weiß gehalten und sie sah, dass der Eingang auf dieser Seite durch Metall verstärkt war und einer Sicherheitstür glich. Eric führte sie ins Wohnzimmer, das geräumig und harmonisch eingerichtet war. Eine große Wohnlandschaft nahm beinahe die Hälfte des Raumes ein, der Rest war mit einem Fernseher, Sideboard und einer Kommode bestückt. Auch hier fiel ihr wieder auf, dass das Mobiliar schlicht war, aber nicht schäbig wirkte und so überhaupt nicht in das abgetragene Haus passen wollte, als hätte man eine Jugendwohnung mit IKEA-Möbeln eingerichtet.
»Hier wohnst du?«, fragte Emma und war nicht sicher, ob sie überrascht über das Innenleben oder erschüttert über die Wohnlage sein sollte.
»Gelegentlich. Ich habe mehrere Wohnungen«, sagte er und verschwand in der angrenzenden Küche. Musste wohl so sein, dachte sie und zog ihren Mantel aus. So ordentlich wie es hier war.
»Hast du keine Angst, dass hier jemand einsteigt?«, fragte sie mit einem Rundblick und blieb an dem großen Plasmafernseher hängen.
»Glaub mir, wer hier wohnt, hat genug Geld«, antwortete er und kam mit einem Wasserglas und einem Bier wieder. Er stellte das für sie bestimmte Glas auf dem Beistelltisch ab, machte aber keine Anstalten, weiter ins Detail zu gehen, also hakte Emma nicht weiter nach. Sie interessierte ohnehin nur eines: »Also, warum bin ich hier?«
»Versprichst du, dass du mich erst anhören und nicht gleich wieder ausrasten wirst?«, fragte er skeptisch. Er setzte sich ihr gegenüber und nahm sein Handy aus der Hosentasche, um darauf herum zu tippen. Emma nickte widerwillig.
»Trink erst mal was und setz dich, bevor du mir noch umkippst«, schlug er vor und nippte seinerseits an der Flasche. Emma kam seiner Aufforderung nach und setzte sich auf das gemütliche Sofa. Und nachdem sie das Glas in wenigen Zügen geleert hatte, forderte sie ihn zum Reden auf. Eric setzte die Flasche ab, warf einen kurzen Blick auf ihr leeres Glas und sagte schulterzuckend:
»Nachdem du mit James zusammen auf der Gala warst, war es nicht mehr sicher für dich. Ich musste dich wegbringen, bevor man euch zusammen gesehen hätte.«
»Du meinst Liam. Du arbeitest für ihn, oder? Woher solltest du sonst wissen, dass er mir verboten hat, mich mit James zu treffen?« Eigenartigerweise verblüffte sie die Erkenntnis nicht annähernd so sehr, wie sie eigentlich sollte. Dafür beunruhigte sie nun etwas ganz anderes: Was, wenn Eric nur einen Vorwand geschaffen hatte, um sie hierherzubringen und Liam auszuliefern?
»Ich
habe
für ihn gearbeitet und bevor du gleich wieder durchdrehst: Du bist nicht hier, weil ich dich überführen will.«
»Warum dann?«
»Weil mein Bruder, dieser verdammte Idiot, sich einfach nicht an seine eigenen Regeln halten kann. Er hat dir schon in der Cocktailbar
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