Stunde der Wahrheit
vielleicht etwas untertrieben. Denn das Blut floss zwar nicht mehr heraus, als hätte man ein Fass Bier geöffnet, aber es hatte auch nicht vollständig aufgehört. Er verlor immer noch Blut.
»Wir sollten dich trotzdem verbinden«, sagte Emma und griff nach dem Verbandszeug hinter sich, froh, etwas gefunden zu haben, das sie von ihrem Gefühlschaos ablenkte – wenn auch nur für einen Moment. Er stand auf, damit sie ihn besser verbinden konnte und Emma kniete sich vor ihn hin. Dabei musste sie sich sehr zusammennehmen, um den Blick auf seiner Wunde zu halten. Denn diese Pose erinnerte sie an etwas, das ganz und gar nicht hierher gehörte und das sich angesichts seiner Verletzung auch überhaupt nicht ziemte. Sie hatte ihn praktisch vor der Nase! Sie müsste nur ihren Blick heben und …
»Alles in Ordnung? Du glühst ja förmlich«, sagte James amüsiert und fasste ihr an die Stirn. Sie zuckte vor seiner Berührung zurück und versicherte ihm, dass alles in Ordnung sei. Vor lauter Nervosität zitterte ihr Stimme aber so sehr, dass er lachen musste.
»Offenbar macht dich meine Nähe nervös. Oder ist es vielleicht die Nähe meines …«
»Halt die Klappe«, sagte Emma, bevor er den Satz beenden konnte. Jetzt, wo er seine Verletzung nicht mehr für lebensbedrohlich hielt, hatte er offenbar zu seiner gewohnten Überheblichkeit zurückgefunden!
»Ich muss zugeben, dass mich das Bild wirklich reizt. Immerhin haben wir es noch nie aus dieser Perspektive getan.« Bild dir bloß nichts ein. Das liegt sicher an Erics bescheuerten Tabletten«, sagte sie säuerlich und versuchte sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren.
»Merkst du eigentlich, dass du ständig irgendwelche Wirkstoffe für deine Gefühle verantwortlich machen willst? Und soweit ich mitbekommen habe, hat er dir Beruhigungstabletten verabreicht, keine Viagra.« Emma lief rot an und bevor die Situation noch peinlicher werden konnte, fragte sie:
»Wohin ist er überhaupt verschwunden?«
»Weiß ich nicht. Er hat nur geschrieben, dass er bald wiederkommt.« Emma studierte sein Gesicht und suchte nach einem Anzeichen von Unaufrichtigkeit. Dabei war es beinahe unerträglich für sie, nicht zu wissen, ob er die Wahrheit sagte oder log. Weil ihr aber nichts anderes übrig blieb, als seine Antwort hinzunehmen, machte sie weiter.
»Fertig. Bringen wir dich aufs Sofa, du musst dein Bein entlasten«, sagte sie, als sie den Verband mit einer Klammer befestigt hatte. Er musterte sie mit einem undefinierbaren Ausdruck, dann ließ er sich ins Wohnzimmer bringen. Sie brachte ihm ein Glas Wasser, denn etwas anderes außer Wein und Whiskey gab Erics Wohnung nicht her. Dann nahm sie eine locker sitzende Trainingshose aus seinem Kleiderschrank, reichte sie James und verschwand im Bad, um die Blutflecken aufzuwischen. Dabei führte sie einen inneren Monolog:
Glaub kein Wort von dem, was er sagt. Er hat dich von vorne bis hinten belogen! Aber Eric hat gesagt, dass Liam ihn ebenfalls bedroht hat. Was, wenn James genauso ein Opfer ist, wie ich? Was, wenn nicht James und Eric die Bösen sind, sondern Liam? Wage es ja nicht, auch nur daran zu denken, ihm zu trauen! Wir reden hier von James, dem Frauenheld Nummer eins! Guck dir doch nur mal seine Vergangenheit an. Erinnere dich an das, was Aubrey dir über ihn erzählt hat! Und wenn sie nun gelogen hat? Wen Eric oder Liam oder wer auch immer sie dazu gezwungen hat?
So ging es noch ewig weiter, doch je mehr sie nach der Auflösung des Rätsels suchte, desto mehr entglitt ihr die Antwort. Es könnte einfach jeder sein. Jeder von ihnen könnte die Wahrheit sagen. Aubrey, Liam, Eric und James. Aber genausogut könnten auch alle lügen. Was sollte sie nur tun? Sie kam nach einer gefühlten Ewigkeit aus dem Bad und sah James ausgestreckt auf dem Sofa liegen. Sofort war sie bei ihm und rüttelte an seiner Schulter. War er ohnmächtig geworden? Durfte man nach so einem Blutverlust überhaupt einschlafen?
»James, alles in Ordnung?«, rief sie und verpasste ihm eine Ohrfeige, damit er wach wurde. Er rührte sich nicht. Oh Gott!
»Nein nein nein, James!«, rief sie und rüttelte ihn grober. Da rührte er sich endlich.
»Ich ruh mich nur kurz aus«, nuschelte er, doch Emma blieb hartnäckig.
»Auf keinen Fall. Du wirst schön wach bleiben. Du darfst nicht einschlafen.« Als er nicht antwortete, murmelte sie:
»Wir können nicht auf Eric warten. Du brauchst ärztliche Versorgung. Ich muss Hilfe holen.«
»Da packte er sie am
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