Sturm der Barbaren
oder eine Frau handelt. Eine andere dunkelhaarige Gestalt liegt auf einem Heuballen neben der Stalltür. Es ist ein Mädchen, noch keine Frau, man hat ihr die Kleider vom Leib gerissen. Lorn muss schlucken, als er den Schnitt quer über dem Hals des Mädchens sieht. Dann schluckt er ein zweites Mal.
Als sie die Westseite des Hofes hinter dem Stall erreichen, kann Lorn über die Anhöhe blicken – die Dritte Kompanie hat sich dahinter aufgestellt. Zandreys Lanzenkämpfer reiten langsam auf die Siedlung zu und Lorns Kompanie entgegen.
Als der Hauptmann Lorn und seine Kompanie erblickt, hält er seine Mannen an.
»Anhalten«, ruft Lorn müde.
»Kompanie halt!«, befiehlt Nytral.
»Haaalt!«, hallt das Echo von Shofirg und Dubrez durch das Tal.
Hauptmann und Unteroffizier reiten einander entgegen. Beide Soldaten halten ihre Pferde an, als sie nur noch wenige Ellen voneinander trennen.
Lorns Augen wirken kalt und ausdruckslos, während er darauf wartet, dass der Hauptmann etwas sagt.
»Gut gemacht!«, dröhnt Zandreys Stimme. »Nicht einer ist davongekommen. Das gelingt uns nicht oft mit einer Kompanie.«
Lorn nickt.
»Ihr habt genau die richtige Entscheidung getroffen, indem Ihr sie auf uns zugejagt habt«, fährt Zandrey fort. »Zu dumm für die Bauern, aber wenn wir angegriffen hätten, bevor Ihr den Hügel hinter Euch gelassen hättet, wären sie uns entkommen.«
Der Wind jammert leise vor sich hin und die Kälte fällt langsam auf Lorn herab. Er wirft einen Blick hinauf zum Himmel und stellt fest, dass während des Kampfes die Sonne hinter den Hügeln im Westen untergegangen ist und der kalte Winter in den Grashügeln wieder Einzug gehalten hat.
»Wir werden hier übernachten«, ordnet Zandrey an. »Der Stall ist groß genug für die Männer und das Wohnhaus für uns und die Truppenführer.«
Lorn nickt, er will und kann im Augenblick nichts sagen, denn seine Gedanken schwirren um das dunkelhaarige, tote Mädchen, das etwa im gleichen Alter sein muss wie seine eigene Schwester Myryan … und um den Angriff, den Zandrey zu keiner Zeit in Erwägung gezogen hat.
XXVI
I n der Dunkelheit des kalten Quartiers, nur im Schimmer der einzigen Lampe, sitzt Lorn auf der Kante des schmalen Betts und hält das silbergrüne Buch in Händen. Er bestaunt die Klarheit der kantigen Buchstaben, die auf die Gründer zurückgehen. Der Umschlag ist immer noch makellos und vollkommen und die Silberfarbe schimmert in allen nur erdenklichen Grüntönen, wenn er das Buch bewegt. Bei all dem, was er nun lernen muss, und den scheinbar endlosen Ritten und der davon herrührenden ständigen Müdigkeit, ist er bisher nur selten zum Lesen gekommen. Er wirft einen Blick auf die Rückseite des Buches, aber auch die ist über die Jahre hinweg unversehrt geblieben.
Es fehlen allerdings zwei Seiten in dem Buch und Lorn vermutet, dass eine davon die Titelseite war und die andere den Namen des Verfassers trug, denn es gibt keinerlei Hinweise darauf, wann das Buch geschrieben wurde, für welchen Zweck oder von wem. Es gibt keine Zahlen, keine Kursivschriften oder verschlüsselte Angaben. Das Buch enthält nur Gedichte, und niemand in Cyad würde so etwas schreiben, zumindest nicht für die Öffentlichkeit, nicht, dass Lorn wüsste; seit Generationen hat das niemand getan, höchstens für die Familie oder für einen geliebten Menschen. Ein Verbot gibt es allerdings nicht, es ist nur einfach nicht üblich.
Lorn schürzt die Lippen. Genau so, wie es nirgends geschrieben steht, dass ein Magierschüler, der sich nicht voll und ganz unterwirft, kein Magier werden darf.
Er streicht über die Buchseiten. Man kann kaum erkennen, wo die Seiten herausgeschnitten wurden, das Material der Seiten scheint etwas fester zu sein als Schimmertuch. Kein Messer, das er kennt, vermag ein derartiges Material so sauber zu schneiden. Aber die Seiten fehlen.
Er öffnet das Buch irgendwo in der Mitte. Er hat versprochen, es zu lesen, jede Seite. Er weiß, dass Ryalth einen Grund hat, sonst hätte sie es nicht von ihm verlangt. Einen Grund, der jenseits ihrer Gefühle liegen muss, denn gerade weil sie Gefühle für ihn hegt, trügen sie diese nicht.
Er liest die Seite, die er zufällig aufgeschlagen hat. Die unausgesprochenen Worte haben etwas Unbefriedigendes an sich. Er liest sie ein zweites Mal und murmelt diesmal leise vor sich hin.
Ich trage die alten Länder im Herzen,
Türme, die Leben kunstvoll verankern,
meine Augen werden nie wieder
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