Sturm der Leidenschaft
gehen!«
»Selbstverständlich kannst du. Du brauchst nur deine Füße aus dem Bett zu heben. Das klappt immer«, neckte Emily.
Whitney schob die Bettdecke zur Seite und überlegte sich krampfhaft Ausreden, die Begegnung mit Clayton zu vermeiden oder zumindest zu verschieben. Doch dann würde er tatsächlich Vanessa Standfield heiraten, und jede Chance einer möglichen Versöhnung wäre vertan. »Wollen wir heute nicht lieber eine Fahrt durch den Hyde Park unternehmen, ein wenig einkaufen gehen und uns dann das neue Theaterstück im Royal ansehen?« schlug sie verzweifelt vor.
»Warum warten wir damit nicht bis morgen, damit wir gleich für deine Aussteuer einkaufen können?«
»Wir haben doch beide den Verstand verloren«, jammerte Whitney. »Er wird mir nicht zuhören. Und selbst wenn, würde es absolut nichts ändern. Er verachtet mich . . .«
Emily hielt ihr auffordernd den Morgenrock hin. »Das ist doch ermutigend. Dann empfindet er zumindest etwas für dich«, erklärte sie resolut, verließ den Raum und kehrte erst zurück, als Whitney angezogen war.
»Wie sehe ich aus?« erkundigte sich Whitney unsicher und drehte sich einmal um sich selbst. Ihre Robe aus hellblauem Samt hatte lange Ärmel und ein tief ausgeschnittenes Mieder. Ihre schweren, mahagonifarbenen Locken waren mit einer Spange aus Aquamarinen und Diamanten auf dem Kopf zusammengefaßt, um dann in reichen Wellen über den Rücken zu fallen. Der Schnitt des Kleides war von raffinierter Schlichtheit, die Frisur betonte ihre faszinierenden grünen Augen und die feingeschnittenen Züge verliehen ihr ein sanftes, sehr verletzliches Aussehen.
»Du siehst aus wie eine wunderschöne Vestalin, die den blutdürstigen Göttern geopfert werden soll«, erwiderte Emily ernst.
»Du meinst, ich sehe ängstlich aus?«
»Absolut verschreckt.« Emily ergriff Whitneys kalte Finger. »Du hast nie besser ausgesehen. Aber das wird nicht reichen. Ich habe den Mann kennengelernt, den du aufsuchen willst, und er wird sich von einer schüchternen, furchtsamen Frau kaum beeindrucken lassen, auf die er noch immer zornig ist. Wenn du ihm scheu und unterwürfig entgegentrittst, unterscheidest du dich so sehr von dem Mädchen, das er geliebt hat, daß du scheitern mußt. Er wird dich anhören, deine Erklärung zur Kenntnis nehmen, dir danken und dich verabschieden. Mach alles, was dir in den Sinn kommt: streite mit ihm, mach ihn noch wütender, als er ohnehin schon ist, aber zeige bloß keine Angst. Sei das Mädchen, das er geliebt hat. Lächle ihn an, flirte mit ihm, streite mit ihm, widersetze dich - aber sei bitte nicht schwach und unterwürfig.«
»Jetzt weiß ich, wie sich die arme Elizabeth gefühlt haben muß, als ich sie dazu brachte, Peter die Stirn zu bieten«, erklärte Whitney, halb lachend, halb bekümmert.
Emily brachte sie an Michaels Kutsche und umarmte sie stürmisch. »Was auch geschehen mag - alles ist besser als der gegenwärtige Zustand.«
Die Kutsche fuhr mit einer schon sehr viel ruhigeren Whitney los und ließ eine überaus nervöse Emily zurück.
Nach einer Stunde Fahrt geriet Whitneys Gelassenheit wieder ins Wanken, und sie versuchte sich damit zu beruhigen, daß sie sich ihre Begegnung ausmalte. Würde Clayton selbst an die Tür kommen oder würde er sie vom Butler in einen der Salons führen lassen? Würde er sie warten lassen? Und wenn er dann endlich kam - würde er sich mit kaltem, unnahbaren Gesicht anhören, was sie zu sagen hatte, um sie dann vor die Tür zu setzen? Was würde er tragen? Etwas Unauffälliges, Schlichtes, dachte Whitney mutlos und sah an ihrer eleganten Robe hinunter - für die er bezahlt hatte.
Entschlossen riß sie ihre Gedanken von diesen Belanglosigkeiten los und konzentrierte sich wieder auf ihre Begegnung. Lieber Gott, dachte sie verzweifelt, laß ihn ärgerlich oder auch zornig sein, laß ihn die schlimmsten Dinge zu mir sagen, aber bitte, laß ihn auf keinen Fall kalt und höflich sein, denn das würde bedeuten, daß er nichts, absolut nichts mehr für mich empfindet.
Die Kutsche überquerte eine breite Brücke, und endlich kam ein Haus in Sicht: hochherrschaftlich und so groß, daß ihr und selbst Emilys Londoner Stadthaus darin Platz gefunden hätten. Mit zwei Stockwerken und riesigen Fenstern erhob es sich inmitten sorgsam geschnittener Rasenflächen, und die Gebäudeflügel zu beiden Seiten bildeten einen Innenhof von der Größe eines Londoner Parks.
Die Novemberdämmerung sank bereits herab, als die
Weitere Kostenlose Bücher