Sturm der Leidenschaft
zahllosen damit zusammenhängenden Verpflichtungen - auf den fähigen Schultern seines Bruders ruhte.
»Du siehst ja zum Erbarmen aus«, sagte er, nachdem er seinen Bruder kurz gemustert hatte. »Entschuldige, Mutter«, setzte er jungenhaft lächelnd hinzu.
»Nun, es stimmt ja auch«, erwiderte die Herzogin. »Ich habe ihm das gleiche gesagt.«
»Du hast ihm gesagt, er sähe zum Erbarmen aus?« erkundigte sich Stephen neckend und drückte einen verspäteten Kuß auf die Hand seiner Mutter.
»Es muß eine Familienunsitte sein«, merkte Clayton ironisch an, »die simpelsten Begrüßungsregeln zu mißachten und statt dessen umziemliche Feststellungen zu treffen. Guten Tag, Stephen.«
Kurz darauf schützte Clayton Erschöpfung nach einer vierstündigen Fahrt vor und entschuldigte sich. Sobald er den Salon verlassen hatte, wandte sich Alicia Westmoreland entschlossen an ihren jüngeren Sohn. »Versuche herauszufinden, was ihn bedrückt, Stephen!«
Energisch schüttelte Stephen den Kopf. »Clay würde Eingriffe in sein Privatleben nie dulden, das weißt du ebensogut wie ich. Abgesehen davon ist er vermutlich wirklich nur erschöpft.«
Dennoch ließ Stephen in den folgenden Tagen Clayton kaum aus den Augen. Tagsüber gingen die Gäste des Hauses auf die Jagd, ritten aus oder unternahmen Ausflüge in nahegelegene Ortschaften. Doch nur am Reiten schien Clayton Spaß zu haben. Allerdings zwang er sein Pferd dabei dazu, über die riskantesten Hindernisse hinwegzusetzen, und er ritt mit einer so verwegenen Rücksichtslosigkeit, daß Stephen aufrichtig beunruhigt war.
Am letzten Abend von Claytons Aufenthalt in Grand Oak blieben die Brüder auch dann noch zusammen, als die anderen Gäste längst ihre Räume aufgesucht hatten. Sie setzten sich mit einer Karaffe Brandy in den Salon, erinnerten sich an die Streiche ihrer Kindheit und gingen, als sie alle erzählt waren, zu leicht anrüchigen Schenkenwitzen über, lachten schallend und leerten ein Glas nach dem anderen.
Clayton griff nach der Karaffe und ließ den letzten Tropfen in sein leeres Glas rinnen. »Alle Achtung«, röhrte Stephen bewundernd. »Du h . . . hast die ganze verdammte Karaffe g . . . geschluckt.« Er griff nach einer anderen Karaffe und schob sie Clayton zu. »Hier, p . . . probier mal, ob du auch den Whisky k . . . kleinkriegst.«
Clayton zuckte gleichgültig mit den Schultern und zog den Verschluß aus der Karaffe.
Mit leicht trüben Augen sah Stephen zu, wie er sein Glas bis zum Rand füllte. »W. . . was zum Teufel h . . . hast du vor? W. . . willst du dich ertränken?«
»Ich versuche«, verkündete Clayton schleppend, »dich unter den Tisch zu trinken.«
»V.. . versuchen kannst du es. Aber ich war immer der bessere von uns. Es w. . . war ungerecht von d . . . dir, geboren zu werden, großer Bruder.«
»Stimmt. Hätte nicht passieren dürfen. Aber sie .. . sie hat es mir zehnfach heimgezahlt.«
Bei aller Trunkenheit lag so viel nackte Verzweiflung in Claytons Stimme, daß Stephens Kopf hochzuckte, so schnell es sein benebelter Verstand erlaubte. »Wer hat es dir heimgezahlt, geboren worden zu sein?«
»Sie.«
Stephen schüttelte heftig den Kopf, um seine Gedanken zu sortieren. »W . . . wer ist sie?«
»Sie mit den grünen Augen«, flüsterte Clayton kaum hörbar. »Sie hat mich bezahlen lassen.«
»Was hast du ihr angetan, daß sie sich rächen wollte?«
»Um ihre Hand angehalten«, erwiderte Clayton mit verwaschener Stimme. »Gab ihrem Vater hunderttausend Pfund.
Aber Whitney wollte mich dennoch nicht.« Er zog eine Grimasse und trank einen großen Schluck Whisky. »Hat sich mit einem anderen verlobt. Alle reden darüber. Nein«, korrigierte er sich. »Sie hat sich nicht verlobt. Aber ich dächte, sie hätte es getan. Und ich . .. ich . ..«
»Und du . . .?« drängte Stephen.
Claytons Gesicht verzog sich zu einer Maske der Qual. Er hob die Hand, als wollte er Stephen um Verständnis bitten, ließ sie dann aber auf den Tisch sinken. »Ich glaubte nicht, daß sie noch unberührt ist«, knirschte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Wußte es nicht, bis ich sie genommen hatte . ..«
Er verschränkte die Arme auf dem Tisch, legte seinen Kopf darauf und sank endlich in die Bewußtlosigkeit, die er den ganzen Abend lang gesucht hatte. Seine Stimme war so leise, daß Stephen sie kaum verstehen konnte. »Ich höre sie noch immer schluchzen«.
Benommen starrte Stephen auf Claytons gesenkten Kopf und versuchte, sich
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