Sturm der Seelen: Roman
hörte sie ihn nicht, oder sie ignorierte ihn einfach und zog ihn hinter sich her quer durch die Lobby zur Treppe.
XXI
MORMON TEARS
Jill legte die Holzstäbe, die sie aufgesammelt hatte, auf die riesige Pyramide in der Mitte der Höhle. Es lagerten noch Tausende davon in dem Pueblo, aber die anderen waren mittlerweile nur noch damit beschäftigt, Kohle ins Feuer zu werfen, und sie konnte sich ein paar Minuten Erholung gönnen. Zuvor hatte sie einen Teller von dem Nudeleintopf gegessen, der ihr jetzt wie ein Stein im Magen lag. Wenn sie ihrem Körper die Gelegenheit gab, die Nahrung zu verdauen, bevor sie sich wieder auf die Arbeit stürzte, würde sie sich vielleicht ein wenig besser …
Dunkelheit senkte sich über sie wie ein Leichentuch. Jill hatte das Gefühl, als würde sie ersticken, sie wollte schreien, brachte aber keinen Ton heraus. Der Puls hämmerte in ihren Schläfen, während ihre Augen sich langsam an die Finsternis gewöhnten. Sie konnte ihre Hände sehen, wie sie in ihrem Schoß lagen. Nein … die Finger waren zu lang, und sie waren zu dreckig, die nackten Oberschenkel darunter viel zu muskulös. Das war keine Erde oder dergleichen, auf diesen langen, schlanken Fingern, sondern Kreide, die die gesamten Handflächen bis hinauf zu den von dicken Adern durchzogenen, spindeldürren Unterarmen bedeckte.
Vor ihren überkreuzten Beinen sah sie kurz eine Zeichnung und darum herum verstreut liegende Kreidestücke, konnte aber nichts Genaues erkennen, denn schon im nächsten Moment hob sie den Kopf und blickte geradewegs nach oben durch ein quadratisches Loch in der Decke. Schattenhafte Gesichter beobachteten sie und verschwanden dann, um mit einem schabenden Geräusch etwas über die Öffnung zu schieben, langsam, bis auch das wenige Licht um sie herum von vollkommener Dunkelheit verschluckt wurde, sie in einer Finsternis zurückließ, in der sie nichts, aber auch rein gar nichts mehr erkennen konnte.
»Jill«, flüsterte eine Stimme, gefolgt von einer Aneinanderreihung von Worten in einer Sprache, die sie nicht verstand. Es klang nicht wie irgendeine Sprache, die sie jemals zuvor gehört hatte, und dennoch kam sie ihr irgendwie vertraut vor.
Erst als sie ihre Augen wieder öffnete, merkte Jill, dass sie sie geschlossen hatte und mit dem Rücken gegen einen Tropfstein gelehnt auf die oberste Ebene des Pueblos starrte. Die anderen saßen immer noch um das Feuer herum, das jetzt fast doppelt so hoch brannte wie davor, und teilten die Reste des Spaghetti-Eintopfs unter sich auf. Sie fühlte sich, als wäre sie gerade aus tiefstem Schlaf erwacht, konnte sich aber beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie länger als ein paar Minuten gedöst hatte.
Etwas an dem dritten Stockwerk dieses seltsamen Bauwerks hielt ihren Blick gefangen. Es war ein weiterer würfelförmiger Raum, der wie aufgepfropft auf den anderen saß. Jill stand auf, schlurfte auf den Haufen Speere vor ihr zu und griff sich einen davon, während ihre Beine wie von selbst weiter auf die Leiter an dem Pueblo zugingen. Sie kletterte hinauf, und über eine weitere Leiter gelangte sie auf die zweite Ebene, wo sie kurz innehielt und die fensterlosen Wände vor ihr anstarrte. Sie sah nirgendwo einen Eingang, die Mauern des Pueblos reichten auf beiden Seiten bis an den Fels der Höhle, wo an den Nahtstellen bereits der Lehm abbröckelte.
»Wie zum Teufel komme ich da …«, sagte Jill zu sich selbst, dann fiel es ihr ein. Sie legte ihren Speer aus der Hand, zog mit einiger Mühe die Leiter, die sie gerade erklommen hatte, zu sich herauf und lehnte sie gegen die Mauer vor ihr.
Dann griff sie wieder nach ihrem Speer und kletterte bis ganz nach oben. Dort angekommen konnte sie jedoch nirgends eine steinerne Abdeckplatte entdecken, wie sie es eigentlich erwartet hatte. Das Dach war vollkommen flach, mit nur einer kleinen Erhebung darauf, die aussah wie ein Maulwurfhügel. Jill drückte die Spitze ihres Speeres gegen den lehmartigen Klumpen. Er gab nach. Mit lautem Stöhnen stieß sie wieder und wieder zu, bis unter dem Lehmhaufen endlich der Stein zum Vorschein kam und sie die Spitze ihres Speers ein Stück weit darunterschieben konnte. Jetzt lehnte sie sich mit ihrem gesamten Gewicht auf den Schaft und schaffte es schließlich, den Stein gerade weit genug zur Seite zu hebeln, dass ihr ein Schwall abgestandener Luft und Staub aus dem Raum darunter entgegenschlugen. Jill warf den Speer zur Seite, setzte sich auf das Dach, presste ihre
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