Sturm im Elfenland
Da war keine Trauer in seinen Zügen, nur Liebe. Glücklich und jung sah er aus, nicht viel älter als Edur, der Eidmann. Die Elfe lächelte ihn liebevoll an, während sie ihr Kind umarmte. Alles, was an ihrem Mann ‒ denn das war der Elf ‒ lohfarben und sonnenstrahlend war, das war an ihr silberweiß und hell.
Gebt acht, wollte Alana rufen, denn sie wusste, dass etwas Schreckliches passieren würde. Aber dann erkannte sie mit grausamer Endgültigkeit, dass alles, was sie sah, längst Vergangenheit war. Dieses schöne Bild war schon lange zu Staub und Asche zerfallen, und übrig geblieben war nichts weiter als der traurige, einsame Elf dort unten im Hof.
»Sie sind tot«, sagte Alana laut. Sie wollte die Bilder, die der Sternenstein ihr schickte, nicht betrachten. Finsternis kroch über den Boden und floss die Wände herab. Sie verschluckte das Kind und die Frau, und der Elf, der sich zu ihrer Rettung in das Dunkel stürzen wollte, wurde von einem anderen Mann zurückgehalten. Der Elf wehrte sich wie ein Wahnsinniger, Alana sah seine weit aufgerissenen Augen, den schreienden Mund, sie erkannte, dass er vor Angst und Zorn beinahe den Verstand verloren hatte.
Die Vision erlosch mit einem Schlag, der Alana durchschüttelte wie ein Erdbeben. »Meine Güte«, keuchte sie.
Garnet hielt sie fest umklammert. »Was war das?«, fragte sie besorgt. »Du hattest einen ganz glasigen Blick und hast gekeucht, als würdest du rennen.«
Alana wischte sich zittrig über das Gesicht. Es war feucht und kalt. »Wo ist er?«, fragte sie und drehte sich aus Garnets Griff zum Fenster. Der Hof war leer.
»Er ist hineingegangen«, erwiderte Garnet verständnislos. »Warum interessiert er dich? Wer war das überhaupt?«
Alana betrachtete die silberne Flagge des Königs über dem Portal. Der mondbleiche Stoff war überhaucht mit einem rosigen Schimmer, der sich, während Alana die Flagge betrachtete, verstärkte und dunkler wurde, bis die ganze Flagge in einem leuchtenden, dunklen Goldton erstrahlte. Der König weilte wieder in seinem Schloss.
»Auberon«, sagte Alana. »Das war der König.«
Sie hatte ihn erst einmal zu Gesicht bekommen, und das war beim letzten Winterjahrfest gewesen, wo er eine schneeweiße Eulenmaske getragen hatte, als er den Ball eröffnete. Er hatte pflichtgemäß einige Tänze mit den edelsten Damen des Reiches absolviert und war dann wieder in seine Gemächer zurückgekehrt. Alana hatte ihn niemals ohne Maske zu Gesicht bekommen.
»Er sieht so traurig aus«, wiederholte sie gedankenverloren.
Garnet lehnte sich gegen das Rückenpolster der Bank und knackte eine Nuss, die sie aus der Schale auf dem Tisch genommen hatte. »Er hat damals seine Familie bei einem Attentat verloren«, sagte sie. »Da sähest du auch traurig aus.«
Alana schauderte. »Weißt du, was das für ein Attentat war?«, fragte sie.
Garnet zuckte die Achseln. »Na, irgendwas Magisches wohl«, meinte sie. »Immerhin hat er danach alle Zauberei im Reich verboten. Fang!«
Alana fing den Nusskern auf, der ihr entgegenflog, und steckte ihn in den Mund. »Ivaylo benimmt sich so merkwürdig«, sagte sie und zerbiss die Nuss.
Garnet, die eifrig weiterknackte, lachte. »Ivaylo benimmt sich komisch, seit wir ihn kennen«, zog sie Alana auf.
»Nein, nein!« Alana wurde zornig, obwohl sie das gar nicht wollte. »Richtig merkwürdig. Wie ein Fremder. Und Erramun auch.«
Garnet kniff die Augen zusammen. »Vielleicht haben sie Geheimnisse vor dir?«, vermutete sie. »Sie waren ja wohl in Ivaylos Haus. Wenn sie da etwas gefunden haben, was mit seinen Eltern und ihrem Verschwinden zu tun hat ...«
»Seine Eltern sind nicht verschwunden«, erwiderte Alana. »Der König hat sie entweder irgendwo eingesperrt oder töten lassen.«
Garnet schlug die Hand vor den Mund. »Oh nein«, sagte sie. »Nein, das ist ja schrecklich! So grausam hat er gar nicht ausgesehen.«
Alana seufzte. Nein, so grausam hatte Auberon tatsächlich nicht auf sie gewirkt. Aber die Geschehnisse um den Tod seiner Familie, die sie als unfreiwillige Beobachterin hatte mitansehen müssen, hatten ihr einen Auberon gezeigt, der wahnsinnig vor Trauer, Furcht und Zorn war. War der König inzwischen wieder bei Sinnen?
Alana hob den Blick und schaute in das besorgte Gesicht ihrer Freundin. »Garnet«, sagte sie kurz entschlossen, »ich glaube, dass auf dem Ball etwas Schreckliches geschehen wird, und ich weiß nicht, was ich tun soll.«
Sie erzählte Garnet von den Bildern, die der
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