Sturm im Elfenland
Sternenstein ihr geschickt hatte. Ihre Freundin lauschte mit gerunzelter Stirn und ohne sie zu unterbrechen. Als Alana geendet hatte, legte Garnet einen Finger an die Nase und atmete tief ein und aus. »Du musst es jemandem sagen.«
Alana breitete die Hände aus. »Wem? Meinem Vater? Wenn ich ihm erzähle, dass Sverre mir den Sternenstein gegeben hat, wird er mir nicht weiter zuhören. Wahrscheinlich schickt er mich zur Strafe gleich wieder nach Hause.«
»Wer ist der Katzenmann in Schwarz-Weiß und wer ist der rote Vogel?«, fragte Garnet in ihrer praktischen Art. »Wenn wir das wissen, können wir den roten Vogel vor dem anderen warnen.«
Alana zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Und ich weiß auch nicht genau, was geschehen wird. Vielleicht ist es genau umgekehrt, und der Rote ist es, der dem Schwarz-Weißen Böses will. Das Blut und die Dunkelheit kamen erst, nachdem der Rote den Katzenmann weggeschickt hatte.«
Garnet schnaufte und stützte das Kinn in die Hand. »Es ist nicht sehr nützlich, dass du diese Sachen siehst, wenn du gar nicht weißt, was du da siehst«, murmelte sie.
Alana musste wider Willen lachen. »Nein«, gab sie belustigt zu. »Es ist sogar ziemlich lästig. Aber der Stein macht, was er will.« Wie immer, wenn sie an den Sternenstein dachte, legte sie die Hand auf die kleine Wölbung unter ihrem Hemd. Sie hörte auf zu lachen und neigte den Kopf zur Seite. »Ich habe so etwas schon früher gesehen«, sagte sie überrascht. »Garnet, darüber habe ich nie nachgedacht. Ich habe schon vor dem Stein solche Dinge gesehen ‒ nur nicht so deutlich und auch viel seltener! Es ist gar nicht der Stein, der mir die Bilder bringt!«
Diese Erkenntnis ließ sie verstummen. Sverre hatte immer gesagt, der Stein sei ein Werkzeug ‒ mächtig in der Hand eines starken Magus, schwach in der eines unkundigen Kindes. Alana hatte nicht recht begriffen, was er damit sagen wollte, aber jetzt begann sie es zu erahnen. Wenn das so war, wenn nicht der Stein ihr den Weg wies, sondern es sich gerade umgekehrt verhielt ...
Alana zog den Sternenstein hervor, hielt ihn fest, blickte ihn an und sagte: »Zeig mir den roten Vogel!«
Sie hörte, wie Garnet nach Luft schnappte, dann bewölkte sich der Stein, ein Nebelschleier legte sich über ihre Augen, die Geräusche der Umgebung wurden schwächer und verstummten gänzlich, und Alana fand sich körperlos im Nebel schwebend wieder, ohne jedes Gefühl dafür, wo sie war. Sie kämpfte einen Anflug von Panik nieder und konzentrierte sich auf ihre Frage. Wer war der Elf in der roten Maske?
Der gestaltlose Nebel verdichtete sich zu einer dunkleren, noch formlosen Wolke. Umrisse traten aus dem wirbelnden Nichts, eine Gestalt begann sich abzuzeichnen, wurde stofflicher. Die Silhouette bekam Masse, füllte sich mit Gewicht und Farbe, bis ein hochgewachsener, in dunkles Rot gekleideter Mann vor ihr aufragte. Reglos stand er da, wie eine angezogene Schneiderpuppe.
Näher heran, dachte Alana. Das Etwas im Nebel, das ihr Ich war, trieb gemächlich auf die erstarrt dastehende Figur zu. Sie konnte die Einzelheiten des Kostüms erkennen, sah die glänzenden Federn, mit denen Maske und Kopfputz besetzt waren, konnte die Falten des Stoffes und die Erhebungen und Vertiefungen der Muskeln und Knochen darunter erkennen.
Aber wer ist es?, dachte sie hartnäckig. Ich will sein Gesicht sehen!
Ein ausdrucksloses Vogelgesicht, scharfschnabelig, mit starr funkelnden Juwelenaugen. Die kleinen Öffnungen für die Augen des Elfen, der die Maske vor seinem Gesicht trug, waren erst auf den zweiten Blick zu erkennen. Alana strengte ihre merkwürdig eingeschränkten und gleichzeitig übersensiblen Sinne an, um einen Blick auf die Augen des Elfen zu erhaschen und so wenigstens eine Ahnung zu bekommen, wessen Gesicht sich unter der Vogelmaske verbarg.
Zeig es mir!, dachte sie. Komm schon, zeig es mir!
Die Gestalt des Maskierten erzitterte, als wäre sie eine Wasserfläche, über die der Wind streicht. Das Zittern wurde heftiger und das Abbild des Elfen begann sich zu zerstreuen. Rote, schwarze und goldene Partikel fielen davon ab und schwebten in alle Richtungen davon.
Nein!, dachte Alana enttäuscht und streckte die Hand aus. Warte, ich habe doch noch nichts sehen können!
Doch ihre körperlosen Finger glitten durch die schillernden, glänzenden Stäubchen, ohne den Zerfall aufhalten zu können. Als Letztes verschwand das Gesicht, und kurz bevor sich alles in tanzende Farben aufgelöst
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