Sturm im Elfenland
geflüchtet und hatte die Decke über den Kopf gezogen. Die Stimme wurde dadurch nur noch lauter und deutlicher. Sie steckte sich die Finger in die Ohren, was ein wenig half, aber das Gezischel vibrierte nun durch ihre Knochen, und das brachte sie darauf, den Stein zu berühren, der so fremd und beinahe lebendig auf ihrer Brust ruhte.
Da hatte sie begriffen, woher die Stimme kam. Sie schrie vor Angst und Entsetzen auf und wollte die Kette über den Kopf ziehen, um den Stein aus dem Fenster zu werfen, aber die Kette ließ sich dieses Mal nicht verlängern.
Also verstopfte Alana ihre Ohren und wickelte ein Tuch um den Stein, um die Stimme zu dämpfen, und dann lag sie für den Rest der Nacht starr und steif auf dem Rücken und hoffte auf den Schlaf, der nicht kommen wollte.
»Wie scheußlich«, sagte Ivaylo. Alana wunderte sich über das Mitgefühl in seiner Stimme. »Bei mir war es das Gleiche. Nein, es war eigentlich ganz anders. Aber trotzdem war es irgendwie genauso.«
Alana lachte über diesen Widerspruch und nach einer Weile stimmte er ein wenig unsicher ein.
»Wie war es denn bei dir?«, fragte sie, und Ivaylo erzählte vom Schmerz, den der Stein ihm bereitet hatte, als der Zwergenkönig ihn in seine Hand gelegt hatte.
»Glühend heiß und kalt.« Alana schüttelte sich. »Hast du dir das vielleicht nur eingebildet? Warum sollte der Zwergenkönig dir Schmerz zufügen?«
Ivaylo hielt ihr stumm die Hand hin. Auf ihrer Fläche war eine kreisrunde, weiß glänzende Narbe zu sehen. Alana strich vorsichtig mit den Fingerspitzen darüber. Die Narbe war glatt und ein wenig härter als die Haut, die sie umgab.
»Das war böse von ihm«, sagte sie leise.
Ivaylo schloss die Hand um ihre Finger. »Nein«, erwiderte er ebenso leise. »Nicht böse. Trond Hammerschlag ist ein Krieger. Er hat so viele Narben an den Händen und an den Armen, gegen die das hier nur ein winziger, lächerlicher Kratzer ist. Wahrscheinlich hätte ein junger Zwerg nicht einmal mit der Wimper gezuckt, und ich habe geschrien wie ein Säugling.« Der Gedanke schien ihn wirklich mitzunehmen.
Alana schüttelte verständnislos den Kopf. »Du bist aber kein Zwerg.«
Ivaylo sah sie zornig an. Tief in seinen eishellen Augen flammte eine Hitze, die sie erschreckte. »Ich bin ein Elf«, erwiderte er heftig. »Ich kann doch kaum weniger Beherrschung zeigen als ein Zwerg?«
Alana lachte. »Jungs«, sagte sie vergnügt. »Ihr müsst aus allem einen Wettkampf machen, habe ich recht?«
Der Zorn in seinen Augen erlosch. Ivaylo grinste sie an. »Mädchen. Wissen immer alles besser. Aber du erinnerst mich daran, dass wir Sverre-habe-ich-recht besuchen wollten. Los, komm.« Er lief los und Alana folgte ihm nach kurzem Zögern. Sie rannten an den Stallungen vorbei.
»Warum trägt er wohl diese Fessel?«, rief sie.
Ivaylo schaute über die Schulter. »Keine Ahnung. Frag deinen Vater.«
Die Tür des Hauses stand weit offen. Hinten im Hof der Schmiede erklangen Hammerschläge auf Metall, das Zischen von heißem Dampf und lauter, unmelodischer Gesang.
»Wir haben Glück, er ist anscheinend zu Hause«, lachte Ivaylo.
Alana folgte ihm ums Haus. Sie ging ein wenig langsamer als Ivaylo, weil sie nachdachte. Was bezweckte der Junge mit alldem? Warum war er plötzlich so nett zu ihr ‒ nein, falsch, warum beachtete er sie? Bisher hatte er jeden im Haus deutlich spüren lassen, dass er nur Trotz und Verachtung übrig hatte und sich nichts sehnlicher wünschte, als anderswo zu sein.
»Die jungen Elfen«, begrüßte sie Sverres dröhnender Bass. Er ließ den Hammer sinken und steckte das Werkstück, an dem er gearbeitet hatte, mit der Zange in einen Bottich mit Wasser. Es zischte und dampfte. In der Esse glühten Kohlen und beleuchteten rötlich die Schmiede, die nicht mehr als ein offener, überdachter Unterstand war.
Alana starrte Sverre fasziniert an. Der Schmied arbeitete mit bloßem Oberkörper, er trug nur seine speckige Hose und eine dicke Lederschürze am Leib. Sein breiter Brustkorb war mit einem dichten Pelz aus dunklem Haar bedeckt, unter dem sie starke Muskeln erahnen konnte.
Sverre stellte den Hammer ab, der so lang war wie sein Unterarm, und legte die Zange auf den Amboss. »Zeit für eine Pause«, sagte er und wischte sich mit einem nicht allzu sauberen Lappen den Schweiß von der Stirn. »Setzt euch irgendwo hin. Ihr habt mir nicht zufälligerweise etwas zu trinken mitgebracht?« Seine Zähne blitzten weiß aus dem rußverschmierten Gesicht.
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