Sturm ueber roten Wassern
Straße entlang, dann kletterten sie über eine Mauer aus unbehauenen Steinen und gelangten schließlich in einen abgeschiedenen Innenhof, der an eine Lagerhalle zu grenzen schien. Jean duckte sich hinter eine teilweise zertrümmerte Kiste, und als seine Augen sich an die Dunkelheit angepasst hatten, erspähte er Lockes schemenhafte Gestalt, flach gegen ein in der Nähe stehendes Fass gedrückt.
»Die Dinge stehen schlimm«, flüsterte Locke. »Schlimmer, als wir dachten. Wie hoch stehen die Chancen, dass ein halbes Dutzend Angehörige der Stadtwache nicht wissen, welche Tavernen sie nach Dienstschluss aufsuchen dürfen, ohne sich einen Rausschmiss oder gar eine Tracht Prügel einzuhandeln? Wie wahrscheinlich ist es, dass sie sich komplett im Viertel irren?«
»Und dann noch eine Lokalrunde für die Unterstützer des Archonten spendieren? Das war eine Menge Geld, was da auf den Tresen geschüttet wurde. Meiner Meinung nach wurden diese Kerle nur vorgeschickt, um den Giftanschlag zu ermöglichen.
Wahrscheinlich wussten sie nicht einmal, worum es ihrem Auftraggeber ging.«
»Das heißt«, wisperte Locke, »dass unser Feind Einfluss auf die Stadtwache hat.«
»Zum Beispiel die Priori.«
»Genau. Oder jemand, der ihnen nahesteht. Aber warum will man uns aus dem Weg räumen?«
Plötzlich erklang hinter ihnen das Geräusch von Leder auf Stein; Locke und Jean schwiegen. Als Jean sich umdrehte, sah er gerade noch einen großen, dunklen Umriss, der über die hinter ihnen liegende Mauer sprang; Stiefel landeten klatschend auf dem Pflaster, was nur bedeuten konnte, dass es ein ziemlich schwergewichtiger Mann war.
Mit einer einzigen fließenden Bewegung schlüpfte Jean aus seinem Rock, schwenkte ihn in einem hohen Bogen und ließ ihn über den Oberkörper des Mannes fallen.
Während der Unbekannte mit dem Rock kämpfte, schnellte Jean nach vorn und hieb ihm das stumpfe Ende seiner Axt über den Schädel. Gleich darauf verpasste er ihm einen Schlag in die Magengrube, worauf der Kerl vornüberkippte. Danach war es ein Kinderspiel, den Mann mit einem Stoß in den Rücken bäuchlings zu Boden zu werfen.
Locke schüttelte eine winzige alchemische Lampe, kaum größer als eine daumengroße Phiole, bis sie anfing zu leuchten. Er schirmte den matten Schimmer mit seinem Körper ab und ließ das Licht nur in eine Richtung fallen, auf den Mann, den Jean überwältigt hatte. Jean hob seine Jacke hoch, und zum Vorschein kam ein großer, muskulöser Bursche mit kahl geschorenem Kopf. Er trug die schlichte Kleidung eines Kutschers oder Dieners, und während er vor Schmerz stöhnte, schlug er sich eine Hand vors Gesicht. Jean setzte die Klinge seiner Axt direkt unter dem Kieferknochen des Mannes an.
»M-Meister de … de Ferra, nein, bitte«, flüsterte der Kerl. »Gütige Götter. Ich arbeite für Merrain. Ich soll … auf Sie achtgeben.«
Locke packte die Linke des Mannes und pellte den Lederhandschuh ab. Im bleichen Schein der Lampe sah Jean auf dem Handrücken des Fremden eine Tätowierung – ein geöffnetes Auge im Herzen einer Rose. Locke seufzte und wisperte: »Er gehört zu den Allsehenden Augen.«
»Er ist ein Idiot«, knurrte Jean leise und sah sich vorsichtig um, bevor er die Axt geräuschlos auf dem Pflaster ablegte. Dann wälzte er den Mann auf den Rücken. »Ist ja gut, Freund. Ich habe dir ein ordentliches Ding auf den Kopf verpasst, aber nicht in den Bauch. Der Schlag in den Solarplexus war harmlos. Bleib ganz ruhig liegen, und atme ein paar Minuten lang tief durch.«
»Das war nicht der erste Schlag, den ich abgekriegt habe«, schnaufte der Fremde, und Jean sah, dass Tränen auf seinen Wangen glänzten. »Götter! Ich frage mich, wieso ihr überhaupt Schutz braucht.«
»Den haben wir sogar dringend nötig«, erklärte Locke. »Ich habe dich doch schon in der Taverne ›Zu den Tausend Tagen‹ gesehen, stimmt’s?«
»Ja, ich war da. Und ich hab beobachtet, wie ihr der armen Frau euer Bier gegeben habt. Oh, verflucht, ich hab das Gefühl, mein Bauch platzt.«
»Das geht vorbei«, meinte Jean. »Hast zu zufällig gesehen, wohin der betreffende Kellner sich verpisst hat?«
»Er ging in die Küche, aber ich hab nicht drauf geachtet, ob er wieder rauskam. Zu dem Zeitpunkt hatte ich keinen Grund, misstrauisch zu sein.«
»Scheiße.« Locke runzelte die Stirn. »So wie ich Merrain kenne, hat sie doch sicher für Notfälle in der Nähe ein paar Soldaten postiert, oder?«
»Vier halten sich in einem alten Lagerhaus
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