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Sturm ueber roten Wassern

Sturm ueber roten Wassern

Titel: Sturm ueber roten Wassern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scott Lynch
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starrend, sah Jean den älteren Kellner und einen seiner Gehilfen … doch der zweite fehlte. Wo zur Hölle steckte der Bursche, der ihnen die Becher mit dem Bier serviert hatte?
    »Messer!«, schrie die Ärztin in die Menge. »Ein scharfes Messer. Schnell, schnell!«
    Locke zauberte ein Stilett aus seinem linken Ärmel und reichte es weiter. Die Ärztin warf einen Blick darauf und nickte – eine Kante war offensichtlich stumpf, doch die andere war, wie Jean wusste, scharf wie ein Skalpell. Die Ärztin hielt das Stilett wie eine Fechtwaffe, und mit der freien Hand zog sie den Kopf der Hafenarbeiterin weit nach hinten.
    »Drücken Sie sie mit voller Kraft auf den Tisch«, befahl sie Jean. Doch trotz seiner Stärke und unter dem Einsatz seines ganzen Körpergewichts hatte er Mühe, die Oberarme der sich wie wahnsinnig wehrenden Frau stillzuhalten. Die Ärztin presste sich gegen eines ihrer Beine, und ein geistesgegenwärtiger Matrose trat rasch hinter sie, um das andere zu packen. »Wenn sie sich bewegt, kann das ihr Tod sein.«
    Während Jean halb entsetzt, halb fasziniert zusah, drückte die Ärztin das Stilett auf den Hals der Frau. Deren knotige Nackenmuskeln zeichneten sich unter der Haut ab wie bei einer Steinstatue, und die Luftröhre stach hervor wie ein Baumstamm. Mit einer Sanftheit, die auf Jean angesichts der dramatischen Situation geradezu Ehrfurcht erregend wirkte, ritzte die Ärztin einen feinen Schnitt quer über die Luftröhre, knapp über der Stelle, an der sie zwischen den Schlüsselbeinen der Frau verschwand.
    Hellrotes Blut quoll aus der Öffnung und lief in breiten Strömen am Hals der Frau hinunter. Die verdrehte die Augäpfel, und ihr Sträuben war alarmierend schwach geworden.
    »Pergament!«, schrie die Ärztin. »Ich brauche Pergament!«
    Zum Missfallen des Kellners begannen mehrere Matrosen sofort damit, die Schankstube auf den Kopf zu stellen und nach etwas zu suchen, das Pergament zumindest ähnelte. Ein anderer weiblicher Offizier pflügte sich durch die Menge, einen Brief aus ihrer Uniformjacke ziehend. Die Ärztin schnappte ihn sich und rollte ihn zu einer festen, dünnen Röhre zusammen, die sie dann, trotz des immer noch heraussprudelnden Bluts, durch den Schlitz im Hals der Hafenarbeiterin schob. Jean merkte vage, dass seine Kinnlade heruntergeklappt war.
    Danach begann die Ärztin, auf die Brust der Frau zu schlagen, während sie eine Reihe von deftigen Flüchen von sich gab. Doch der Körper der Hafenarbeiterin war erschlafft; das Gesicht hatte eine gespenstische bläuliche Färbung angenommen, und das Einzige, was sich an ihr noch bewegte, war der Blutstrom, der aus dem Pergamentröhrchen rann. Ein paar Minuten später gab die Ärztin ihre Bemühungen auf und setzte sich keuchend auf den Rand von Lockes und Jeans Tisch. Die blutigen Hände wischte sie sich an der Vorderseite ihres Rocks ab.
    »Es hat keinen Zweck mehr«, verkündete sie der Menge, die mucksmäuschenstill geworden war. »Ihre warmen Säfte sind total versiegt. Ich kann nichts mehr für sie tun.«
    »Sie haben sie umgebracht!«, brüllte der älteste Kellner. »Sie haben ihr die Kehle aufgeschlitzt, verdammt noch mal, und das vor unser aller Augen!«
    »Ihre Kiefer und der Hals sind starr wie Eisen«, rechtfertigte sich die Ärztin und stand wütend auf. »Ich tat das einzig Mögliche, um ihr zu helfen!«
    »Aber Sie haben ihr die Kehle …«
    Der stämmige ranghohe Offizier, der Jean bereits vorher aufgefallen war, trat nun an den Tresen, mit einem Pulk seiner Offizierskameraden im Rücken. Selbst auf die Entfernung konnte Jean auf jedem Rock und jeder Tunika eine Rose über gekreuzten Schwertern erkennen.
    »Jevaun«, hob der Offizier an, »stellst du etwas Magister Almaldis Fähigkeiten infrage?«
    »Nein, aber Sie sahen doch selbst …«
    »Oder zweifelst du gar an ihren lauteren Absichten?«
    »Äh, bitte …«
    »Behauptest du – vor Zeugen – eine Ärztin im Dienste des Archonten«, fuhr der Offizier in gnadenlosem Ton fort, »unsere Offizierskameradin, sei eine Mörderin?«
    Der Kellner wurde leichenblass. »Nein, natürlich nicht«, erwiderte er hastig. »Ich behaupte nichts dergleichen. Ich bitte vielmals um Vergebung.«
    »Ich bin nicht derjenige, bei dem du dich entschuldigen musst.«
    Der Kellner wandte sich an Almaldi und räusperte sich mehrmals. »Bitte verzeihen Sie mir, Magister.« Er starrte auf seine Füße. »Ich … ich habe so etwas noch nie gesehen. Der Anblick von Blut ist mir fremd. Aus

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