Sturm ueber roten Wassern
treiben. Denn hier, Meister Ravelle, rekrutieren Sie Ihre Besatzung.«
5
Wie Stragos bereits angekündigt hatte, mussten sie im ersten Zellengeschoss unterhalb der Eingangshalle, am Fuß einer breiten Wendeltreppe aus schwarzem Eisen, einen weiteren Aufseher außer Gefecht setzen. Der obere Teil des Steinturms war für Wachposten und alchemische Lichter bestimmt; der wahre Zweck des Amwind- Felsens wurde jedoch durch drei uralte Kellerverliese erfüllt, die tief unterhalb des Meeresspiegels lagen und bis in die Wurzeln der Insel hineinreichten. Der Mann sah sie kommen und war sofort alarmiert; ohne Zweifel war es ein Verstoß gegen die Vorschriften, dass Locke und Jean allein die Treppe hinunterstiegen. Als der Bursche die Stufen hochstürmte, entriss Jean ihm das Schwert, trat ihm ins Gesicht und nagelte den sich wehrenden Kerl bäuchlings am Boden fest. Nachdem Jean einen Monat lang unter Caldris’ Fuchtel exerziert hatte, schien er seine Kraft noch brutaler einzusetzen als sonst, und Locke empfand beinahe Mitleid mit dem armen Burschen, der unter ihm zappelte. Locke streckte den Arm aus, gab dem Wachposten eine Prise »Weißer Traum« zu kosten und pfiff unbeschwert vor sich hin. Nun hatten sie die gesamte Nachtschicht ausgeschaltet, eine Rumpfbesatzung ohne Köche oder andere Gehilfen. Ein Wachposten am Anleger, zwei in der Eingangshalle, einer im ersten Kellergeschoss. Die beiden Wachleute auf dem Dach mussten auf Stragos’ direkten Befehl hin bereits einen mit einer Droge vermischten Tee getrunken haben und mit der Kanne zwischen ihnen eingeschlafen sein. Am nächsten Morgen würde die Ablösung die beiden finden, eine glaubhafte Erklärung für ihren Zustand abgeben – und die Verwirrung um die ganze Affäre würde sich noch ein wenig steigern. Der Amwind-Felsen selbst verfügte nicht über Boote; selbst wenn es einigen Gefangenen gelänge, sich aus den mit Eisengittern versehenen Zellen, die in die tropfenden Wände der alten Gewölbe eingelassen waren, zu befreien und die verbarrikadierte Eingangshalle und die einzige, massive Tür zu passieren, müssten sie mindestens eine Meile durch offenes Wasser schwimmen, gierig belauert von etlichen Kreaturen der Tiefe, die sich auf eine Mahlzeit freuten.
Locke und Jean ignorierten die Eisentür, die zu den Zellen der ersten Kelleretage führte, und stapften auf der Wendeltreppe weiter nach unten. Die Luft war mit Feuchtigkeit übersättigt, und sie roch nach Salz und ungewaschenen Körpern. Hinter der Eisentür im zweiten Geschoss befand sich eine Kaverne, die in vier große, niedrige Zellen geteilt war, je zwei an einer Seite mit einem fünfzehn Fuß langen Korridor in der Mitte.
Nur einer diese Kerker war zurzeit belegt; ein paar Dutzend Männer lagen schlafend da, beleuchtet vom blassgrünen Licht vergitterter alchemischer Kugellampen, die hoch oben in den Wänden eingelassen waren. Hier drin war die Luft zum Schneiden dick; es stank bestialisch nach schmutzigem Bettzeug, Urin und vergammeltem Essen. Dünne Nebelfäden kräuselten sich um die Gefangenen. Einige wenige Augenpaare verfolgten misstrauisch Locke und Jean, als sie sich der Zellentür näherten. Locke nickte Jean zu, und der hünenhafte Mann hämmerte mit der Faust gegen die Gitterstäbe. Ein irrsinniges Geschepper ertönte und hallte mit unerträglicher Lautstärke in dem feuchten Gemäuer wider. Verstörte Gefangene stemmten sich fluchend und schreiend von ihren schmutzigen Strohlagern hoch.
»Habt ihr es bequem hier drin, Männer?« Locke musste brüllen, um sich in dem Lärm bemerkbar zu machen. Jean hörte auf, gegen die Stäbe zu schlagen. »Klar doch! Und es ginge uns noch viel besser, wenn wir einen hübschen Verrari-Käpt’n in der Zelle hätten, den wir der Reihe nach beglücken könnten«, brummte ein Gefangener in der Nähe des Gitters.
»Ich bin kein geduldiger Mann«, erwiderte Locke und zeigte auf die Tür, durch die er und Jean gerade getreten waren. »Wenn ich da wieder rausgehe, komme ich nie wieder zurück.«
»Dann verpiss dich doch, und lass uns schlafen«, krächzte eine Vogelscheuche von Mann aus der hintersten Ecke der Zelle.
»Und wenn ich nicht zurückkomme«, fuhr Locke ungerührt fort, »dann wird keiner von euch elenden Scheißkerlen je erfahren, warum die Zellen im ersten und dritten Kellergeschoss allesamt rappelvoll sind … und hier nur in einer einzigen Gefangene stecken.«
Das ließ die Kerle aufhorchen. Locke schmunzelte.
»Schon besser. Mein
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