Sturm ueber roten Wassern
und dann wieder von Mitternacht bis sechs Uhr früh. Die Freiwächter durften sich beschäftigen, wie sie wollten, es sei denn, es wurde »Alle Mann an Deck« befohlen, wenn irgendeine Gefahr drohte oder ein Manöver anstand, das die Kraft der gesamten Besatzung erforderte.
Die Schrubberwache unterlag nicht diesem Schema; die ehemalige Besatzung der Roter Kurier schuftete von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, und sie nahmen ihre Mahlzeiten ein, nachdem sie wegtreten durften, anstatt sich mit der richtigen Mannschaft um die Mittagsstunde zum Backen und Banken niederzulassen. Trotz allen Murrens hatte Jean nicht das Gefühl, dass die Männer und Frauen der Orchidee tatsächlich etwas gegen ihre neuen Bordkameraden einzuwenden hatten. Er vermutete sogar, dass sie ihnen ganz genehm kamen, indem sie die schmutzigsten und langweiligsten Arbeiten übernahmen und Drakashas Leuten mehr Zeit blieb, um zu schlafen, ihre persönlichen Sachen in Ordnung zu bringen oder ohne die geringste Spur von Scham in ihren Hängematten unter einer Decke zu vögeln. Der Mangel an Privatsphäre auf diesem Schiff brachte Jean immer wieder zum Staunen; er war weder prüde noch eine Jungfrau, aber seine Vorstellung vom richtigen Ort hatte immer Steinwände und eine fest verschlossene Tür beinhaltet.
Doch auf einem Schiff wie diesem bedeutete ein Riegel gar nichts; egal, welches Geräusch erzeugt wurde, jeder hörte mit. Zwei Männer der Blauen Wache, die ein Paar waren, konnte man bis zur Heckreling hören, wenn sie es im vorderen Mannschaftsquartier trieben; und eine Frau von der Roten Wache kreischte immer die vulgärsten Ausdrücke auf Vadran, für gewöhnlich dann, wenn Jean auf dem Deck über ihr gerade einschlummerte. Er und Locke wunderten sich über ihre Grammatik und schlossen daraus, dass Vadran nicht ihre Muttersprache war. Manchmal wurde ihre Vorstellung mit Applaus belohnt.
Abgesehen davon schien die Crew auf ihre Disziplin sehr stolz zu sein. Jean bemerkte keinerlei Handgreiflichkeiten, es gab kaum ernsthaften Streit, und nur selten trank jemand Alkohol außerhalb der regulären Zuteilung. Bier und Wein begleiteten in maßvollen Rationen jede Mahlzeit, und nach irgendeinem komplizierten Schema, das Jean noch nicht durchschaut hatte, erlaubte man jedem Crewmitglied einmal pro Woche eine sogenannte »Fidele Wache«, eine Art Wache-in-der-Wache. Die Wachgänger der Fidelen Wache richteten sich auf dem Hauptdeck ein und durften einen Teil der Kühl benutzen (hauptsächlich, um dort über die Reling zu kotzen). Ihr Alkoholkonsum wurde so gut wie nicht begrenzt, und selbst von »Alle Mann an Deck« waren sie ausgenommen, bis sie sich von ihrem Besäufnis erholt hatten. »Es entspricht nicht … exakt dem, was ich erwartet hatte«, bemerkte Jean, als Ezri eines Morgens an der Backbordreling stand und so tat, als sähe sie ihm nicht dabei zu, wie er den Kiel des kleinsten Beibootes mit grauer Farbe anstrich. Ab und zu beobachtete sie ihn. Oder bildete er es sich nur ein? Lag es daran, dass er Lucarno zitiert hatte? Auf weitere Zitate hatte er lieber verzichtet, selbst wenn sich ihm die Gelegenheit dazu bot. Er fand, es sei besser, wenn er sich geheimnisvoll gab, anstatt etwas zu wiederholen, das einmal ihre Aufmerksamen: erregt hatte. Dreizehn Götter, dachte er plötzlich, warte ich etwa darauf, dass sie mir Avancen macht? Ist sie … »Wie bitte?«, fragte sie.
Jean lächelte. Irgendwie hatte er sich gedacht, dass sie nichts dagegen hätte, wenn er sie ohne Aufforderung ansprach. »Ihr Schiff. Es entspricht nicht exakt dem, was ich erwartet hatte. Nach allem, was ich gelesen habe.«
»Nach allem, was du gelesen hast?« Sie lachte, verschränkte die Arme über der Brust und sah ihn beinahe verschlagen an. »Was hast du denn gelesen?«
»Lassen Sie mich nachdenken.« Er tunkte den Pinsel in die alchemische graue Pampe und versuchte, beschäftigt auszusehen. »Sieben Jahre Sturm und Peitsche.«
»Benedictus Montcalm«, entgegnete sie. »Ich habe das Buch auch gelesen. Ganz großer Mist. Ich glaube, er hat bei echten ’Matrosen Drinks gegen Schauermärchen eingetauscht, bis er ein Buch zusammenhatte.«
»Und wie finden Sie das Werk Die Wahre und Ausführliche Geschichte der Garstigen Roten Flagge?« »Suzette vela Ducasi! Ich kenne sie!« »Persönlich?«
»Nein, ich habe nur von ihr gehört. Ein verrücktes altes Luder, das in Port Prodigal landete. Fabriziert Schund für ein paar Kupferstücke und versäuft jede Münze, die sie
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