Sturm ueber roten Wassern
Nacht. Vollbeladen hüpfte sie nicht mehr wie zuvor über die kabbelige See, sondern ihr Bug schnitt sich durch die Wellen, als seien sie Luft.
»Als ich Leutnantsanwärter war«, kam Käpt’n Drakashas Stimme aus der Dunkelheit, »und auf einer Reise zum ersten Mal einen Offiziersdegen tragen durfte, habe ich meinen Kapitän wegen des Diebstahls einer Flasche Wein belogen.«
Sie sprach sehr leise. Erschrocken blickte Locke sich um und sah sie direkt über sich stehen, an der vorderen Achterdeckreling.
»Ich war nicht die Einzige«, fuhr sie fort. »Wir waren zu acht im Fähnrichsquartier und ›borgten‹ uns eine Flasche aus den privaten Vorräten des Kapitäns. Nachdem wir sie ausgetrunken hatten, hätten wir so schlau sein müssen, sie über Bord zu werfen.«
»War das … als Sie in der Marine von Syrune dienten?«
»Ihrer Erlauchtesten Majestät Kriegsmarine des Ewigen Syrune. Jawohl, dort diente ich.« Drakashas Lächeln glich einem weißen Halbmond, matt wie der Schaum, der die Wellen krönte. »Der Kapitän hätte uns auspeitschen, degradieren oder sogar bis zu einer offiziellen Anklage an Land in Ketten legen lassen können. Stattdessen mussten wir die Bramrah vom Großmast abschlagen. Natürlich hatten wir eine Ersatzrah dabei.
Aber der Kapitän ließ uns den Anstrich der heruntergeholten Rah abkratzen … wie du weißt, ist das ein zehn Fuß langer Eichenbalken, dick wie ein Bein. Der Kapitän nahm uns die Degen ab und sagte, wir bekämen sie erst zurück, wenn wir die Bramrah aufgegessen hätten. Vollständig, bis auf den letzten Splitter.«
»Ihr solltet das Holz essen?«
»Das waren eineinviertel Fuß massiver Eiche für jeden von uns«, erklärte Drakasha.
»Wie wir es anstellten, blieb uns selbst überlassen. Es dauerte einen Monat. Wir probierten alles Mögliche aus. Wir raspelten das Holz, zerstampften es, kochten es zu Brei. Wir lernten hundert Tricks, um es genießbar zu machen, und wir würgten es runter, jeden Tag ein paar Löffelvoll Holzmatsch oder eine Handvoll Späne. Die meisten von uns haben hinterher gekotzt, aber wir aßen die Rah vollständig auf.«
»Götter!«
»Als es vorbei war, erklärte uns der Kapitän, sie habe uns beibringen wollen, wie wichtig Ehrlichkeit an Bord eines Schiffs ist. Sie sagte, Lügen reißen eine Schiffsgemeinschaft auseinander, Stück für Stück. Sie nagen am Zusammenhalt der Besatzung, bis hinterher nichts mehr von der Kameradschaft übrig ist – so wie wir die Bramrah nach und nach aufgerieben haben.«
»Ah.« Locke seufzte und genehmigte sich endlich einen Schluck von seinem warmen, exzellenten Wein. »Das heißt wohl, dass Sie mich noch ein bisschen auseinandernehmen wollen.« »Komm zu mir an die Heckreling.«
Locke stand auf, denn er wusste, dass es sich nicht um eine Einladung handelte – es war ein Befehl.
4
»Ich wusste gar nicht, dass es so ermüdend sein kann, Gerechtigkeit walten zu lassen«, meinte Ezri, die an Jeans Seite auftauchte, während er dastand und über die Backbordreling aufs Meer starrte. Im Süden ging gerade einer der Monde auf, eine halbierte silberweiße Münze, die über der nächtlichen Kimm hervorlugte, als müsse der Himmelskörper es sich noch überlegen, ob sich der Aufstieg überhaupt lohnte. »Sie hatten einen anstrengenden Tag, Leutnant.« Jean lächelte.
»Jerome …« Sie legte eine Hand auf seinen Unterarm. »Wenn du mich in dieser Nacht noch einmal mit ›Leutnant‹ ansprichst, bringe ich dich um. Heute Nacht bin ich für dich nur Ezri.«
»Danke, Leu … La … ich wollte etwas anderes sagen, dass auch mit ›L‹ anfängt, ehrlich! Außerdem hast du heute schon einmal versucht, mich zu exekutieren. Und sieh, was daraus geworden ist.« »Besser hätte es doch gar nicht kommen können«, meinte sie und lehnte sich neben ihn an die Reling. Ihren Panzer hatte sie abgelegt und trug nur eine dünne Tunika und bis zu den Waden reichende Hosen ohne Strümpfe oder Schuhe. Das Haar hing ihr offen über den Rücken, eine Kaskade aus dunklen Locken, die von der Brise zerzaust wurde. Jean merkte, dass sie sich schwer an der Reling abstützte, sich aber gleichzeitig bemühte, es nicht zu zeigen.
»Äh … heute bist du ein paar Klingen ein bisschen zu nahe gekommen«, stotterte er. »Es geht. Meine Bekanntschaft mit Messern oder Schwertern war schon viel intimer. Aber du … du bist ein verdammt guter Kämpfer, weißt du das?« »Nun ja, wenn ich angegriffen werde, dann versuche ich mich zu wehren
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