Sturm ueber roten Wassern
gegen seinen Willen einen Anflug von Nostalgie. Betrunkene lagen bewusstlos in der Gosse. Diebische Kinder beäugten ihre Gruppe aus dunklen Nischen. Gendarmen in langen Lederjacken droschen hinter einem räderlosen Karren auf irgendeinen armen Schuft ein, bis der die Besinnung verlor. Aus jedem offenen Fenster und jeder offenen Tür hörte man Flüche, Gezänk, Lachen und die würgenden Geräusche von Leuten, die das eine Bier zu viel wieder auskotzten … dieser Ort erinnerte ihn so sehr an Camorr, dass er sich beinahe heimisch fühlte. »Orchidee!«, brüllte jemand aus einem Fenster in der zweiten Etage. »Orchidee!« Zamira reagierte mit einem lässigen Winken auf das Gegröle und bog an einer schlammigen Wegkreuzung nach rechts ab. Aus einer finsteren Gasse kam ein vierschrötiger Mann gestolpert, der außer schmutzigen Hosen nichts am Leib trug. Sein starrer, abwesender Blick deutete darauf hin, dass er Jeremitisches Pulver geraucht hatte, und in der rechten Faust hielt er ein gezacktes Messer, das so lang war wie Jeans Unterarm.
»Geld oder Stoff«, lallte der Kerl, dem Speichelfäden vom Kinn hingen. »Egal was. Ich brauch ’nen Zug. Gebt mir …«
Möglicherweise hatte er gar nicht gemerkt, dass er es mit acht Gegnern zu tun hatte, aber was dann geschah, konnte ihm nicht entgehen. Rask schlug ihm die Hand mit dem Messer weg und schleifte ihn am Hals in die Gasse zurück. Was sich dort im Dunkeln abspielte, dauerte nur wenige Minuten; Jean hörte ein Gurgeln, und schon trat Rask auf die Straße zurück, eines seiner eigenen Messer an einem Lappen abwischend. Den Lumpen warf er hinter sich in die Gasse, steckte das Messer in die Scheide zurück und hakte völlig entspannt die Daumen in den Gürtel. Ezri und Drakasha schienen den Vorfall für nicht erwähnenswert zu halten, sondern schlenderten seelenruhig weiter, wie Tempelbesucher am Morgen des Bußetags.
»Wir sind da«, verkündete Ezri, als sie die Kuppe eines kleinen Hügels erreichten. Ein großer, teilweise mit Steinplatten ausgelegter Platz, dessen ungepflasterte Flächen kreuz und quer von Karrenspuren zerfurcht waren, wurde beherrscht von einem wuchtigen, zweigeschossigen Gebäude mit einem Säulengang, der um den abgeschlagenen Heckspiegel eines alten Schiffs herum konstruiert worden war. Die Zeit, die Witterung und sicherlich zahllose Schlägereien hatten die aufwändigen Schnitzarbeiten ramponiert, doch hinter der Fensterflucht im zweiten Stock, wo sich früher die große Achterkajüte befunden haben musste, sah man zechende und feiernde Menschen. An der Stelle, an der einst das Ruder angebracht gewesen war, sah man nun eine massige, zweiflüglige Tür, flankiert von alchemischen Lampenglocken (runde, dickwandige Kuppeln, die beinahe unzerbrechlich waren), deren Form an Hecklaternen erinnerte.
»Die Taverne ›Zum Roten Fetzen‹«, fuhr Ezri fort, »ist entweder das Herz oder das Arschloch von Port Prodigal, je nachdem, aus welcher Perspektive man es betrachtet.«
Links vom Eingang hatte man das Langboot eines Schiffs aufgepallt und mit dicken Stützpfeilern und Eisenketten am Gebäude befestigt. Über dem Bootsrand waren ein paar menschliche Arme und Beine zu erkennen. Unvermittelt flog die Tavernentür auf, und zwei brutal aussehende Kerle erschienen, gemeinsam einen schlaffen alten Mann tragend. Ohne viel Federlesens oder eine Spur von Mitgefühl hievten sie ihn in das Boot, wo seine Ankunft ein unartikuliertes Gebrüll und Zappeln von Gliedmaßen hervorrief.
»Hier muss man vorsichtig sein«, erklärte Ezri schmunzelnd. »Wer sich so besäuft, dass er nicht mehr aufrecht stehen kann, wird ins Boot geschmissen. In manchen Nächten versammeln sich dort bis zu zehn oder zwanzig Leute.«
Im nächsten Moment quetschte sich Jean an den Rausschmeißern vorbei in die vertrauten Gerüche einer überfüllten Taverne, obendrein zu einer Zeit, die dem Morgengrauen näher war als dem Abendessen. Es stank nach Schweiß, angebranntem Fleisch, Erbrochenem, Blut, Qualm und einem Dutzend Sorten von schlechtem Bier und billigem Wein – das Bukett zivilisierten Nachtlebens.
Das Lokal sah aus, als sei es für Gäste eingerichtet, die nicht nur miteinander kämpfen, sondern sich auch an der Einrichtung austoben wollten. Die Bar am hinteren Ende des Raums war vom Tresen bis zur Decke von Eisenplatten umgeben; lediglich ein paar schmale Fenster waren ausgespart, durch die das Personal Getränke und Speisen servieren konnte, wie Bogenschützen, die ihre
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