Sturm ueber roten Wassern
zischte Jean ihm zu. »Wenn wir am Ende des Hofes sind, rennen wir los, möglichst auffällig. Und dann versteck dich. Wer immer uns verfolgt …«
»Muss dann ein paar Erklärungen abgeben. Auf die harte Tour.«
Am Ende des Hofes ragte eine Hecke auf, die doppelt so groß war wie Locke. Ein Bogengang, der an den Seiten vollgestellt war mit leeren Kisten und Fässern, führte zur dunklen und kaum benutzten rückwärtigen Seite der Goldenen Treppe. Ungefähr zehn Yards von diesem Bogengang entfernt legten Locke und Jean auf ein unausgesprochenes Signal hin einen Sprint ein.
Blitzschnell flitzten sie durch den Bogen in die dahinter liegende finstere Gasse; Locke wusste, dass ihnen nur wenige Sekunden blieben, um sich zu verstecken. Sie mussten weit genug vom Hof entfernt sein, dass kein Bediensteter des Sündenturms zufällig auf das zu erwartende Handgemenge aufmerksam wurde.
Sie hetzten vorbei an Gärten und ummauerten Rasenflächen, nur wenige Yards von Häusern entfernt, in denen hunderte der reichsten Menschen aus ganz Therin sich einen Spaß daraus machten, ihr Vermögen zu verlieren. Endlich entdeckten sie einige leere Fässer, die zu beiden Seiten des Durchgangs aufgestapelt waren – offensichtlicher konnte ein Ort für einen Hinterhalt nicht sein, doch wenn ihre Gegner glaubten, sie hätten nichts weiter im Sinn, als zu flüchten, übersahen sie diese Möglichkeit vielleicht.
Jean war bereits in diesem Schlupfwinkel untergetaucht. Mit heftig klopfendem Herzen zog Locke sein Stilett aus dem Stiefel und duckte sich hinter die Fässer auf der gegenüberliegenden Seite. Mit einem Arm zog er sich den Umhang so vor das Gesicht, dass nur die Augen und die Stirn frei blieben.
Das schnelle Klatschen von Leder auf Stein – dann hasteten zwei dunkle Gestalten an den Fässern vorbei. Locke verzögerte seinen Angriff bewusst um einen halben Herzschlag und ließ Jean den Vortritt. Als der Verfolger, der Locke am nächsten war, sich erschrocken umdrehte, weil er Jeans Attacke auf seinen Kumpan gehört hatte, preschte Locke mit vorgerecktem Dolch auf ihn zu, wie berauscht von der Vorstellung, endlich herauszufinden, was es mit dieser mysteriösen Angelegenheit auf sich hatte.
Er bekam seinen Verfolger gut zu fassen; im selben Moment, in dem er ihm den linken Arm um den Hals schlang, drückte er ihm von der anderen Seite die Klinge an die Kehle. »Lass deine Waffe fallen, oder ich …«, war jedoch alles, was er hervorbringen konnte, ehe der Mann auf die schlimmstmögliche Weise reagierte. Um sich aus Lockes Griff zu lösen, machte er einen Ruck nach vorn, reflexhaft vielleicht, ohne darauf zu achten, in welchem Winkel Locke ihm den Dolch an die Gurgel hielt. Ob es aus übertriebenem Optimismus oder reiner Torheit geschah, würde Locke nie erfahren, denn der Mann schlitzte sich den halben Hals auf und starb auf der Stelle in einem Schwall von Blut. Aus seinen schlaffen Fingern rutschte klirrend eine Waffe zu Boden.
Fassungslos hob Locke die Hände und ließ den Leichnam los; dann fiel sein Blick auf Jean, der schwer atmend über der reglosen Gestalt seines Gegners stand.
»Moment mal«, zischte Locke, »soll das heißen …«
»Pech«, flüsterte Jean zurück. »Ich griff nach seinem Messer, wir kämpften ein bisschen, und auf einmal steckte es zwischen seinen Rippen.«
»Oh Götter, verflucht noch mal«, murmelte Locke und schüttelte sich das Blut von der rechten Hand. »Da bemüht man sich, irgendeinen Dreckskerl am Leben zu lassen, und sieh nur, was passiert …«
»Armbrüste!«, stellte Jean fest. Er zeigte auf den Boden, und Locke, dessen Augen sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah die verschwommenen Umrisse von zwei kleinen, handlichen Armbrüsten. Waffen, wie man sie auf der Straße trug und die nur innerhalb von zehn Yards wirksam einsetzbar waren. »Heb sie auf. Es könnten noch mehr Leute hinter uns her sein.«
»Hölle!« Locke schnappte sich eine der Waffen und reichte die andere vorsichtig an Jean weiter. Die kleinen Bolzen konnten vergiftet sein; der Gedanke, im Dunkeln die womöglich mit Gift bestrichene Waffe eines Fremden zu handhaben, verursachte ihm eine Gänsehaut. Aber Jean hatte recht; wenn sie abermals angegriffen wurden, mussten sie sich wehren können.
»Ich würde sagen, Diskretion ist ein Luxus, den wir uns nicht leisten können«, meinte Locke. »Lass uns rennen, was das Zeug hält!«
Sie hetzten also weiter durch die vergessenen Winkel der Goldenen Treppe, nach
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