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Sturm ueber roten Wassern

Sturm ueber roten Wassern

Titel: Sturm ueber roten Wassern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scott Lynch
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könnte.«
    »Halb so wild, Locke. Ich habe vorgesorgt. Letzte Woche erzählte ich dem Wirt im Vertrauen, du seist ein Don aus Camorr, der inkognito reist und versucht, sich von einem Anfall von Wahnsinn zu erholen. Und gerade eben habe ich ihm eine verdammt große Menge Silber auf den Tresen gelegt. Du hast doch nicht vergessen, was Silber ist, oder? Das Zeug, das wir den Leuten aus den Taschen gezogen haben, damals, als du noch eine angenehme Gesellschaft warst.«
    »Ich finde das gar nicht witzig, Jean! Gib mir meinen verfluchten Wein zurück!«
    »Das Zeug ist wirklich verflucht. Und wenn du ihn weiter in dich hineinkippen willst, dann musst du wohl aus dem Fenster klettern.«
    Locke trat einen Schritt zurück und starrte wie vom Donner gerührt auf das bizarre Bollwerk. »Jean, das kann doch nicht dein Ernst sein!«
    »Es war mir noch nie ernster als jetzt.«
    »Fahr zur Hölle. Fahr zur Hölle! Ich kann nicht aus dem Fenster klettern, verdammt noch mal. Mein Handgelenk …«
    »Du hast mit dem Grauen König gekämpft, da war einer deiner Arme beinahe abgeschnitten. Du bist aus einem Fenster geklettert, das fünfhundert Fuß hoch im Rabennest lag. Und hier, im dritten Stock, stellst du dich so hilflos an wie ein junges Kätzchen in einem Ölfass? Heulsuse! Hosenpisser!«
    »Du versuchst, mich absichtlich zu provozieren!«
    »Meine Güte, wie bist du bloß darauf gekommen? Und das mit deinem Spatzenhirn!«
    Vor Wut kochend stapfte Locke ins Zimmer zurück. Er stierte auf die geschlossenen Fensterläden, biss sich auf die Zunge und ging zu Jeans Wand zurück.
    »Bitte, lass mich raus«, begann er so ruhig, wie es ihm möglich war. »Ich hab kapiert, dass du mir nur helfen willst. Du hast mich überzeugt.«
    »Leck mich doch am Arsch, Locke! Du sollst nicht anfangen zu palavern, sondern aus dem Fenster klettern!«
    »Mögen die Götter dich vernichten!«
    Wieder in dem kleinen Kabuff, tigerte Locke aufgebracht hin und her. Probehalber schwenkte er die Arme; die Schnitte am linken Arm schmerzten, und die tiefe Schulterwunde machte jede Bewegung zu einer Tortur. Das zerschmetterte linke Handgelenk fühlte sich allerdings so an, als sei es vielleicht wieder belastbar. Egal, wie weh es tat … er krümmte die Finger der linken Hand zu einer Faust, betrachtete sie eine Weile, und dann peilte er mit schmalen Augen zum Fenster hinauf.
    »Scheiß drauf!«, fluchte er. »Ich werd’s dir schon zeigen, du Sohn eines verfluchten Seidenhändlers …«
    Locke zerrte das Bettzeug von seiner Schlafstätte, verknotete Laken mit Decken und biss auf die Zähne, als sein Körper mit stechenden Schmerzen reagierte. Doch die Qualen trieben ihn nur noch mehr an. Er zurrte den letzten Knoten fest, stieß die Blendläden auf und warf das behelfsmäßige Seil durchs Fenster. Das Ende, das er in der Hand hielt, band er an ein Bettgestell. Es war nicht gerade ein solides Möbelstück, aber er war ja auch ein Leichtgewicht.
    Dann stieg er durchs Fenster nach draußen.
    Vel Virazzo war eine alte Stadt mit niedrigen Häusern; während Locke an dem notdürftigen Kletterseil sachte hin und her pendelte, drei Stockwerke hoch über Straßen, durch die dünne Nebelschwaden trieben, wurde er von blitzartig auftauchenden Eindrücken überwältigt. Aus Stein und Mörtel errichtete, windschiefe Gebäude mit flachen Dächern … gereffte Segel an schwarzen Masten im Hafen … weißes Mondlicht, das sich im dunklen Wasser spiegelte … flackernde rote Lichter auf hohen Glassäulen, die sich in einer geraden Linie bis an den Horizont erstreckten.
    Locke schloss die Augen, klammerte sich an die Laken und schluckte krampfhaft, um gegen den Brechreiz anzukämpfen.
    Es schien das Sicherste zu sein, einfach nach unten zu rutschen; er nahm mehrere Anläufe und musste sich zwischendurch immer wieder festhalten und aussetzen, wenn seine Hände sich durch die Reibung zu stark erhitzten und zu brennen anfingen.
    Zehn Fuß hatte er bereits geschafft … Zwanzig … Er balancierte unsicher auf dem oberen Rand des Fensters der Schankstube und holte ein paarmal tief Atem, ehe er seine Kletterpartie fortsetzte. Trotz der milden Nachtluft fing er an zu frösteln, weil er in Schweiß gebadet war.
    Der letzte Streifen des letzten Lakens endete ungefähr sechs Fuß über dem Boden; Locke glitt so weit wie möglich daran herunter und ließ sich dann fallen. Seine Füße knallten auf das Kopfsteinpflaster, und dann entdeckte er Jean Tannen, der schon mit einem billigen grauen

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