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Sturm ueber roten Wassern

Sturm ueber roten Wassern

Titel: Sturm ueber roten Wassern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scott Lynch
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hat?«
    »Wir ließen ihn in Talisham zurück«, erzählte Jean. »Ich fürchte, das Verhalten meines Freundes hat ihn dazu bewogen, seine Seereise abrupt abzubrechen.«
    »Nun, ich an seiner Stelle hätte genauso gehandelt. Ich verzichte auf mein Honorar - aus Mitleid. Behalte dein Silber, du wirst es noch brauchen … für Wein. Oder für Gift!«
    Nach und nach verbrachte Jean immer mehr Zeit mit den Messing-Kerlen, hauptsächlich, um nicht mit Locke zusammen zu sein. Eine Woche verging, dann noch eine. »Tavrin Callas« entwickelte sich zu einer bekannten und allseits geachteten Gestalt in Vel Virazzos Bruderschaft der Ganoven. Jeans Auseinandersetzungen mit Locke drehten sich immer stärker im Kreis, wurden zunehmend unergiebiger und frustrierender. Instinktiv erkannte Jean, dass Locke sich in seinem Selbstmitleid suhlte und langsam, aber sicher in eine tiefe Depression verfiel; niemals hätte er sich träumen lassen, dass ausgerechnet der legendäre »Dorn von Camorr« einmal so absacken könnte und dass es ihm, Jean Tannen, zukam, seinen Freund aus dieser selbstzerstörerischen Haltung herauszureißen. Eine Weile verdrängte er das Problem, indem er die Messing-Kerle ausbildete.
    Anfangs gab er ihnen wie beiläufig nur ein paar praktische Tipps – wie sie sich mit einfachen Handzeichen verständigen konnten, wenn Fremde zugegen waren, wie man echte Edelsteine von Imitationen aus Glas unterschied, die zu stehlen sich nicht lohnte.
    Danach ergab es sich wie von selbst, dass man ihn respektvoll bat, ihnen ein paar der Tricks zu zeigen, mit denen er es geschafft hatte, vier Messing-Kerle in Grund und Boden zu prügeln. Die ersten, die sich mit dieser Bitte an ihn wandten, waren die vier Burschen, denen er die Abreibung ihres Lebens verpasst hatte.
    Eine Woche später war der Unterricht in vollem Gange. Ein halbes Dutzend Jungen wälzte sich auf dem staubigen Boden der Gerberei, während Jean ihnen die Grundlagen des Nahkampfs beibrachte – Armhebel, Kopfhaken, Beinstellen und ähnliches. Er fing damit an, die Kniffe – die gnädigen wie die unbarmherzigen - vorzuführen, denen er es verdankte, dass er überhaupt noch lebte, nachdem er sich so viele Jahre lang mit seinen Fäusten und Äxten hatte durchsetzen müssen.
    Unter Jeans Einfluss entwickelten die Jungen ein Interesse für den Zustand der alten Gerberei, in der sie sich verkrochen. Er ermutigte sie ausdrücklich, diese alte Halle als ihr Hauptquartier zu betrachten, das sie sich möglichst behaglich einrichten sollten.
    Auf einmal hingen alchemische Laternen von den Dachbalken. Neues Wachspapier wurde über die kaputten Fenster genagelt, und die Löcher im Dach waren bald mit Brettern und Stroh abgedichtet. Die Jungen stahlen Kissen, billige Wandbehänge und tragbare Regale.
    »Besorgt mir einen Herdstein«, erklärte Jean. »Klaut einen richtig großen, und dann bringe ich euch armen kleinen Scheißern bei, wie man kocht. In Camorr gibt es die besten Köche; dort sind selbst die Diebe Meister der Kochkunst. Ich habe eine jahrelange Ausbildung genossen.«
    Er sah sich in der immer behaglicher anmutenden Gerberei um, betrachtete die sich immer eifriger gebärdenden jungen Diebe und sagte mit einem wehmütigen Unterton zu sich selbst: »Wir alle wurden zu Gourmetköchen ausgebildet.«
    Mehr als einmal hatte er versucht, Locke für das Projekt mit den Messing-Kerlen zu interessieren, doch stets war er abgeblitzt. In jener Nacht nahm er einen erneuten Anlauf, erzählte von ihrer wachsenden Geschicklichkeit als Diebe, von der Ausstaffierung des Hauptquartiers und dem Training, das er diesen vielversprechenden jungen Burschen angedeihen ließ. Locke hockte auf dem Bett, in den Händen ein angeschlagenes Glas, das zur Hälfte mit dem violetten Wein gefüllt war, und glotzte ihn eine geraume Zeit lang mit stumpfer Miene an.
    »Na ja«, sagte er schließlich. »Na ja, wie ich sehe, hast du dir einen Ersatz geschaffen.«
    Vor Verblüffung verschlug es Jean glatt die Sprache.
    Locke leerte sein Glas und fuhr mit monotoner, müder Stimme fort: »Das ging ja schnell. Schneller, als ich gedacht hatte. Eine neue Gang, ein neues Quartier. Keines aus Elderglas, aber du wirst mit Sicherheit eines entdecken, wenn du nur lange genug suchst. Du spielst also Vater Chains und züchtest dir eine große, glückliche Familie heran, so wie er es getan hat.«
    Jean stürmte durchs Zimmer und schlug Locke das leere Glas aus den Händen; es zerschellte an einer Wand, und ein Schauer

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