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Sturm ueber roten Wassern

Sturm ueber roten Wassern

Titel: Sturm ueber roten Wassern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scott Lynch
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geklettert waren.
    »Hey!«, rief Locke. »Herzlichen Glückwunsch! Wir sind Einbrecher mit umgekehrtem Vorzeichen, sozusagen Spiegelbilder von ganz gewöhnlichen Dieben. Wir sind gekommen, um dir fünfzig Goldsolari zu schenken!« Er warf dem Diener einen Beutel voller Münzen zu; der Mann fing ihn mit einer Hand auf und schnappte nach Luft, als er merkte, wie schwer er war. Während der nächsten anderthalb Sekunden, die er verstreichen ließ, ohne Alarm zu schlagen, zog Jean ihm mit seinem Totschläger eins über den Schädel. Sie waren über die Nordwestecke der obersten Etage in den Palazzo der Familie Cordo eingestiegen, da das mit Zinnen und Eisenspitzen bewehrte Dach nicht unbedingt zum Klettern einlud. Es war kurz vor der zehnten Abendstunde, in einer herrlich milden Nacht am Messing-Meer, spät im Monat Aurim; Locke und Jean hatten sich bereits durch eine Dornenhecke gezwängt, waren drei Trupps von Wächtern und Gärtnern ausgewichen und hatten zwanzig Minuten lang die feuchte, glatte Steinmauer der Villa Cordo erklommen, nur um bis hierher zu kommen.
    Ihre behelfsmäßigen Kutten als Priester des Gottes Androno sowie der größte Teil der anderen Dinge, die sie brauchen würden, steckten in Rucksäcken, die Jabril hastig zusammengenäht hatte. Wahrscheinlich hatte dank dieser Kutten niemand einen Armbrustbolzen auf sie abgefeuert, seit sie festen Verri-Boden betreten hatten, aber die Nacht war noch jung, und alles Mögliche konnte passieren.
    Jean schleifte den bewusstlosen Diener in den Fensteralkoven und hielt Ausschau nach anderen Störungen, während Locke leise das doppelflüglige Milchglasfenster schloss und den Schnappriegel wieder einklinkte. Ein schmales, raffiniert gebogenes Metallstück hatte ausgereicht, um den Verriegelungsmechanismus zu öffnen; die Richtigen Leute von Camorr nannten dieses Instrument einen »Essensgutschein«, denn wenn man in ein Haus eindringen konnte, dessen Besitzer wohlhabend genug waren, um sich Glasfenster mit Schnappriegeln zu leisten, hatte man sein Abendessen so gut wie sicher.
    Locke und Jean waren in genügend Villen wie diese eingestiegen – wenn auch vielleicht nicht in ganz so weitläufige –, um ungefähr zu wissen, wo sie nach ihrem Opfer suchen mussten. Das Schlafgemach des Hausherrn lag oft in der Nähe von Annehmlichkeiten wie Rauchzimmern, Studierzimmern, Lesezimmern und … »Bibliothek«, murmelte Jean, als er und Locke auf Zehenspitzen den rechter Hand liegenden Korridor entlangpirschten. Alchemische Lampen in geschmackvoll mit Vorhängen dekorierten Alkoven verbreiteten ein angenehm mattes, orangegoldenes Licht. Durch eine offen stehende Doppeltür im Gang zu ihrer Linken erhaschte Locke einen Blick auf Regale voller Bücher und Pergamentrollen. Es war kein weiterer Diener in Sicht.
    Die Bibliothek grenzte an ein kleines Wunder; hier gab es mindestens tausend gebundene Bücher sowie hunderte von Schriftrollen, akribisch in Gestellen und Fächern geordnet. Karten von Sternbildern, auf alchemisch gebleichtes Leder gemalt, zierten ein paar freie Flächen an den Wänden. Zwei geschlossene Türen führten zu angrenzenden Räumen, eine befand sich links von ihnen, die andere geradeaus.
    Locke drückte sich flach gegen die Tür zur Linken und lauschte. Er hörte ein leises Murmeln und wandte sich Jean zu, der allerdings neben einem der Bücherregale stehen geblieben war. Er streckte die Hand aus, griff nach einem schmalen Oktavband - vielleicht sechs Zoll hoch – und stopfte ihn hastig in seinen Rucksack. Locke grinste.
    In diesem Moment ging die Tür, neben der er stand, in seine Richtung auf, und er bekam einen harmlosen, aber schmerzhaften Schlag gegen den Hinterkopf. Er wirbelte herum und stand einer jungen Frau gegenüber, die ein leeres Silbertablett trug. Sie öffnete den Mund, um zu schreien, und Locke blieb nichts anderes übrig, als möglichst schnell zu reagieren; mit der linken Hand hielt er ihr den Mund zu, mit der rechten zog er einen Dolch. Ohne lange zu fackeln, schob er die Frau in den Raum zurück, aus dem sie gerade gekommen war; Locke spürte, wie seine Füße hinter der Tür in einem Plüschteppich versanken, der mindestens einen Zoll dick sein musste.
    Jean folgte ihm und schlug die Tür hinter ihnen zu. Das Tablett der Dienerin fiel auf den Teppich, und Locke stieß sie zur Seite. Mit einem überraschten Ausruf landete sie in Jeans Armen; Locke sah, dass er am Fußende eines Bettes stand, das eine Seitenlänge von ungefähr zehn

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