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Sturm ueber roten Wassern

Sturm ueber roten Wassern

Titel: Sturm ueber roten Wassern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scott Lynch
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die Kacheln. Sämtliche Fugen brachen, aber die einzelnen Teile flogen nicht in alle Richtungen, da sie durch etwas zusammengehalten wurden, das durch die hohlen Beine und die Rückenlehne verlief. Locke fuhrwerkte kurz mit den Trümmern herum und zog dann mehrere lange Seile aus Halbseide heraus. Mit einem dieser Seile wurde Selendri im Nu an den Stuhl hinter Requins Schreibtisch gefesselt. Sie trat mit den Beinen um sich, spuckte ihre Gegner an und versuchte sogar zu beißen, aber es nützte alles nichts.
    Sobald sie sicher festgebunden war, nahm sich Locke ein Messer aus dem Werkzeughaufen am Boden, während Jean die drei anderen Stühle zertrümmerte und ihren verborgenen Inhalt herausholte. Als Locke sich Selendri mit der Klinge in der Hand näherte, streifte sie ihn mit einem verächtlichen Blick. »Ich kann Ihnen nichts von Bedeutung verraten«, zischte sie. »Der Tresor befindet sich im Sockel dieses Turms, und Sie haben sich selbst hier eingesperrt. Sie können mich bedrohen, wie Sie wollen, Kosta, aber von mir erfahren Sie nichts, was Ihnen von Nutzen sein könnte. Im Übrigen ist mir unbegreiflich, was Sie tun – es ergibt nicht den geringsten Sinn.«
    »Oh, Sie glauben, das Messer ist für Sie?« Locke schmunzelte. »Selendri, ich dachte, Sie würden mich besser kennen. Und was den Tresor betrifft – wer sagt Ihnen denn, dass ich da rein will?«
    »Alle Ihre Vorbereitungen …«
    »Dienten der Täuschung, Selendri. Um Sie und Requin in die Irre zu führen. Ich bin dafür bekannt, dass ich falsche Fährten lege. Dachten Sie, ich würde wirklich mit mechanischen Schlössern experimentieren und für Maxilan Stragos spionieren? Zur Hölle! Ich habe in der ersten und zweiten Etage des Sündenturms lediglich Kognak geschlürft, um mich zu erholen, nachdem ich fast in Stücke gehackt worden wäre. Ihr Tresor ist in der Tat nicht zu knacken, meine Süße. Nicht, dass ich jemals vorgehabt hätte, auch nur in seine Nähe zu kommen.«
    Locke blickte sich um und tat so, als sähe er diesen Raum zum ersten Mal. »Requin hat doch eine erlesene, ungeheuer wertvolle Gemäldesammlung, nicht wahr?«
    Mit einem Grinsen, das sich noch breiter anfühlte, als es in Wirklichkeit war, stellte sich Locke vor das nächste Bild und begann, es vorsichtig aus seinem Rahmen zu schneiden.
    Zehn Minuten später sprangen Locke und Jean mit dem Rücken voran von Requins Balkon; die Seile aus Halbseide waren an ihren Ledergürteln befestigt und mit perfekten Seemannsknoten am Balkongeländer gesichert. Für zusätzliche Sicherungsleinen war in den Stühlen kein Platz mehr gewesen, aber wenn man im Leben Erfolg haben wollte, musste man eben manchmal ein kleines Risiko eingehen.
    Locke stieß ein lautes Triumphgeheul aus, als sie in raschem Tempo nach unten glitten, vorbei an Balkonen und Fenstern, hinter denen sich gelangweilte, zufriedene, gleichgültige oder erschöpfte Glücksspieler drängten. Seine Hochstimmung hatte vorübergehend seine Sorgen verdrängt. Er und Jean fielen zwanzig Sekunden lang in die Tiefe, wobei nur ihre eisernen Abseilhaken einen unkontrollierten Absturz verhinderten.
    Und während dieser zwanzig Sekunden war die Welt in Ordnung, dem Korrupten Wärter sei Dank. Zehn von Requins teuren Gemälden – mit äußerster Behutsamkeit aus ihren Rahmen gelöst, eingerollt und in Transportröhren aus Wachstuch verwahrt -hingen über ihren Schultern. Zwei Bilder musste Locke an der Wand lassen, weil die Röhren nicht ausreichten; für mehr war in den Stühlen kein Platz gewesen. Sobald Locke auf die Idee verfallen war, Requins berühmte Gemäldesammlung zu stehlen, hatte er in mehreren Städten unter den Antiquitätenhändlern und Kunstmaklern nach einem potenziellen Käufer Ausschau gehalten. Die Summe, die man ihm schließlich für die von ihm noch zu »erwerbenden« Kunstobjekte angeboten hatte, fand er zufriedenstellend, und das war noch milde ausgedrückt. Nach ihrer rasanten Talfahrt landeten sie auf Requins Hof, wo die Seile drei Zoll über den Steinplatten endeten. Ihre Ankunft erschreckte mehrere betrunkene Paare, die am Rand des Hofs entlangschlenderten. Kaum hatten sie sich der Seile und ihres Klettergeschirrs entledigt, da hörten sie auch schon Stiefelgepolter und das Klirren von Waffen und Rüstungen. Ein Trupp von acht Allsehenden Augen kam von der Straßenseite des Turms auf sie zugerannt.
    »Stehen bleiben!«, bellte ihr Anführer. »Als Offizier des Archonten und des Rates verhafte ich Sie wegen Ihrer

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