Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sturm ueber roten Wassern

Sturm ueber roten Wassern

Titel: Sturm ueber roten Wassern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scott Lynch
Vom Netzwerk:
von Vel Virazzo weggezerrt. Du hattest immer recht. Ich habe mich schrecklich benommen, und ich kann verstehen, dass du mir immer noch nicht hundertprozentig traust. Ich hatte mich so in den Kummer über meine Verluste hineingesteigert, dass ich gar nicht mehr wusste, was mir noch geblieben war. Ich bin froh, dass du dir immer noch Sorgen um mich machst und mir gelegentlich einen Tritt in den Hintern gibst, damit ich spure. Offenbar brauche ich diese … Aufmunterung.«
    »Ich … äh … ich möchte mich auch bei dir entschuldigen. Aber ich …«
    »Verflucht noch mal, unterbrich mich nicht dauernd, wenn ich mich gerade mal in einer selbstkritischen Phase befinde. Ich schäme mich für mein dämliches Verhalten in Vel Virazzo. Wenn man bedenkt, was wir zwei gemeinsam durchgestanden haben, war das der Gipfel an Undankbarkeit dir gegenüber. Ich verspreche dir, dass ich mich bessern werde. Beruhigt dich das ein wenig?«
    »Ja. Ja, das beruhigt mich sogar ganz ungemein.« Jean fing an, die verstreuten Karten einzusammeln, und der Hauch eines Lächelns erschien auf seinem Gesicht. Locke lehnte sich in seinem Sitz zurück und rieb sich die Augen.
    »Grundgütige Götter. Wir brauchen ein Ziel, Jean. Wir brauchen einen Coup. Wir brauchen jemanden, dem wir als Team das Fell über die Ohren ziehen. Verstehst du, was ich meine? Es geht nicht nur darum, Requin zu verarschen. Ich will, dass wir zwei wieder gegen die ganze Welt antreten, uns jeder Gefahr stellen. Jede Sekunde muss ausgefüllt sein mit Planen und Intrigen, genauso wie früher – damit wir gar nicht erst ins Grübeln kommen.«
    »Weil wir ständig kurz davorstehen, eines gewaltsamen Todes zu sterben, meinst du wohl.«
    »Ja, ganz genau. Wie in der guten alten Zeit.«
    »Der Coup, den du vorhast, könnte ein Jahr in Anspruch nehmen«, sinnierte Jean.
    »Vielleicht auch zwei.«
    »Für ein derart interessantes Unterfangen bin ich gern bereit, ein, zwei Jahre zu opfern.
    Hast du andere dringende Verpflichtungen?«
    Jean schüttelte den Kopf, gab Locke das Kartenspiel zurück und widmete sich wieder mit ernster, nachdenklicher Miene seinen Notizen. Bedächtig befingerte Locke das Kartenpäckchen mit der linken Hand, die er kaum gebrauchen konnte. Unter seiner Baumwolltunika juckten die immer noch frischen Narben, die so zahlreich waren, dass der größte Teil seiner linken Körperhälfte aussah, als sei er aus Einzelstücken zusammengenäht worden. Bei allen Göttern, er wollte wieder gesund sein! Er wünschte sich seine frühere, für selbstverständlich gehaltene Agilität zurück!
    Manchmal fühlte er sich wie ein alter, müder, verbrauchter Mann.
    Tapfer mischte er die Karten noch einmal mit der Linken, und das Päckchen fiel auseinander. Aber zumindest war es nicht in sämtliche Richtungen geflogen. Durfte er das bereits als einen Fortschritt betrachten?
    Er und Jean schwiegen eine Zeit lang.
    Dann ratterte die Kutsche um einen letzten kleinen Hügel herum, und plötzlich blickte Locke über eine grüne, wie ein Spielbrett gemusterte Landschaft, die sich in sanften Böschungen zu ungefähr fünf bis sechs Meilen entfernten Meeresklippen absenkte.
    Graue, weiße und schwarze Flecken waren in das Gelände eingesprenkelt, sich in Richtung des Horizonts verdichtend, wo der zum Festland gehörende Teil von Tal Verrar gegen die Felsenklippen drückte. Die in Meeresnähe gelegenen Bezirke der Stadt schienen sich unter dem peitschenden Regen zu ducken, der gigantische silberne Vorhänge hinter sich her schleppte und die Inseln auslöschte, die den Kern, das Herzstück dieser Metropole ausmachten. In der Ferne zuckten blaue und weiße Blitze durch die Wolkenmassen, und leises Donnergrollen wehte über die Felder zu ihnen herüber.
    »Wir sind da«, verkündete Locke.
    »Nicht ganz. Noch sind wir auf dem Festland«, korrigierte Jean, ohne hochzusehen.
    »Wir sollten uns gleich hier ein Quartier suchen; bei diesem Wetter dürfte es schwer sein, einen Bootsmann zu finden, der uns zu den Inseln übersetzt.«
    »Als was geben wir uns aus, wenn wir dort ankommen?«
    Jean hob den Kopf und kaute auf seiner Unterlippe, ehe er sich auf ihr altes Spiel einließ. »Lass uns eine Weile keine Camorri sein. Camorr hat uns in der letzten Zeit nicht viel Glück gebracht.«
    »Talishani?«
    »Von mir aus.« Jean änderte ein wenig seine Stimme und verlieh ihr den schwachen, aber charakteristischen Akzent der Stadt Talisham. »Anonymus Inkognito aus Talisham und sein Partner Inkognito

Weitere Kostenlose Bücher