Sturm ueber roten Wassern
weitere Jahre als ehrbarer Dieb mein Geld verdienen muss, bin ich vielleicht wirklich reif für den Ruhestand. Ich könnte wieder ins Seiden- und Speditionsgeschäft einsteigen, sozusagen in die Fußstapfen meiner Eltern treten – vielleicht einige ihrer alten Geschäftspartner ausfindig machen, sofern ich mich noch an deren Namen erinnere.«
»Ich glaube, dass wir in Tal Verrar unser Glück machen werden«, behauptete Locke.
»Es ist eine unverdorbene Stadt, und wir betreten Neuland. Wir haben noch nie von dort aus gearbeitet, und Leute unseres Schlages sind in dieser Gegend unbekannt.
Keiner kennt uns, keiner erwartet uns. Wir haben totale Bewegungsfreiheit.«
Die Kutsche rasselte im strömenden Regen weiter, holperte über Stellen, an denen der schützende Belag aus Schmutz von den verwitterten Steinen der Theriner Thron-Straße gespült worden war. Weit hinten am Horizont erhellten Blitze den Himmel, aber zwischen Land und Meer waberte ein dichter grauer Schleier, und der größte Teil von Tal Verrar entzog sich ihren Blicken, als sie das erste Mal in die Stadt hineinfuhren.
»Du hast höchstwahrscheinlich recht, Locke. Ich glaube auch, dass wir dringend einen neuen Coup brauchen.« Jean legte die Papiere in den Schoß und ließ die Fingerknöchel knacken. »Bei den Göttern, ich freue mich schon darauf, wieder auf die Jagd zu gehen.
Es gibt kein schöneres Gefühl, als sich an seine Beute heranzupirschen.«
Kapitel Drei
Ein warmer Empfang
1
Die Kammer war ein Würfel aus groben Ziegeln, an jeder Seite ungefähr acht Fuß lang. Drinnen herrschte totale Finsternis, und die Wände verströmten eine trockene Hitze. Die Ziegel waren so heiß, dass man sie höchstens ein paar Sekunden lang anfassen konnte. Nur die Götter wussten, wie lange Locke und Jean bereits in dieser Kammer schwitzten – vermutlich mehrere Stunden.
»Agh.« Lockes Stimme klang brüchig. Er und Jean hockten Rücken an Rücken in der tintigen Schwärze, um sich gegenseitig zu schützen, die zusammengefalteten Röcke unter den Hintern gelegt. Nun trommelte Locke mit den Fersen gegen den Boden, und das nicht zum ersten Mal.
»Bei den Göttern!«, schrie er. »Lasst uns hier raus! Wir haben schon kapiert, was los ist!«
»Was könnte denn los sein?«, fragte Jean heiser. »Ich kapier überhaupt nichts mehr.« »Ich weiß nicht, was hier gespielt wird.« Locke hustete krampfhaft. »Und es ist mir auch egal. Wer auch immer uns kleinkriegen will, er hat sein Ziel erreicht, findest du nicht?«
Die Abnahme der Kapuzen war eine Erlösung gewesen – vielleicht zwei Herzschläge lang.
Zuerst hatte man sie eine endlos lange Zeit durch die Dunkelheit stolpern lassen, während sie dem Ersticken nahe waren, gezogen und gestoßen von zwei Bewachern, die es sehr eilig zu haben schienen. Als Nächstes kam tatsächlich eine Bootsfahrt; Locke konnte den warmen, nach Salz schmeckenden Nebel riechen, der vom Hafen der Stadt aufstieg, während das Deck sachte unter ihm schwankte und die Riemen rhythmisch in ihren Dollen knarrten.
Schließlich kamen sie irgendwo an; das Boot schaukelte, als jemand aufstand und hin und her ging. Die Riemen wurden eingeholt, und eine fremde Stimme rief nach Schifferstangen. Kurz darauf stieß das Boot gegen einen Widerstand, und kräftige Hände zerrten Locke auf die Füße. Nachdem man ihn aus dem Boot gehoben und auf einen festen Untergrund aus Stein gestellt hatte, wurde ihm jählings die Kapuze vom Kopf gerissen. Er sah sich um, in der plötzlichen Helligkeit mit den Augen zwinkernd, und sagte: »Verdammte Scheiße!«
Mitten in Tal Verrar, zwischen den drei sichelförmigen Inseln der Großen Gilden, lag die Castellana, das befestigte Anwesen, in dem vor Jahrhunderten die Herzöge von Tal Verrar residiert hatten. Jetzt, wo die Stadt sich der aristokratischen, mit Adelsprädikaten versehenen Oberschicht entledigt hatte, diente die mit Villen bestandene Castellana einer neuen, gut situierten Nobilität als Heimstätte – den Fnon-Ratsherren, den unabhängigen Kapitalisten und jenen Gildemeistern, deren gesellschaftliche Stellung es erforderte, ihren Reichtum so ostentativ wie möglich zur Schauzustellen.
Im Zentrum der Castellana, geschützt durch einen leeren Graben, einen kreisrunden Canyon aus Elderglas, erhob sich der Mon Magisteria, der Palast des Archonten – ein himmelstürmendes, von Menschenhand erschaffenes Bauwerk, das aus einer fremdartigen, wundersamen Pracht herauswuchs. Eine elegante
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