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Sturm ueber roten Wassern

Sturm ueber roten Wassern

Titel: Sturm ueber roten Wassern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scott Lynch
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kurzer Spaziergang. Nach unten schauen darf ich natürlich nicht, aber das ist auch gar nicht nötig. Ich bin so stabil und ausgeglichen wie eine vollbeladene Galeone.«
    Mit ausgestreckten Armen, um das Gleichgewicht zu halten, balancierte er vorsichtig den Pylon entlang. Merkwürdig, wie die Brise auffrischte, während er durch die leere Luft zu trippeln schien. Plötzlich schien der Himmel über ihm viel weiter entfernt zu sein … Er heftete den Blick starr auf die Tür und hielt sogar unbewusst den Atem an, bis er die Hände gegen die Türfüllung legen konnte. Dann holte er tief Luft und wischte sich die Stirn ab, auf der sich eine peinlich große Menge Schweiß angesammelt hatte.
    Azura Gallardines Haus war aus soliden weißen Steinblöcken gebaut. Auf dem hohen Spitzdach saßen ein quietschendes Windrad und eine in einen Holzrahmen gespannte große Lederblase zum Sammeln von Regenwasser. Geschnitzte Reliefs mit allerhand mechanischen Motiven zierten die Tür, und daneben war eine Messingplatte in den Stein eingelassen. Jean drückte auf die Platte und hörte, wie im Haus ein Gong ertönte.
    Inmitten von Rauchschwaden, die von den Küchenfeuern der tiefer gelegenen Terrasse hochkräuselten, stand er da und wartete.
    Gerade als er sich anschickte, ein zweites Mal auf die Messingplatte zu drücken, ging die Tür knarrend auf. In dem Spalt erschien eine kleine, finster dreinblickende Frau und starrte zu ihm hinauf. Er schätzte sie auf über sechzig – ihre rötliche Haut war zerknittert wie die Knickstellen alter Lederbekleidung. Sie hatte eine gedrungene Figur, einen geschwollenen Hals, der ein wenig an den Kehlsack eines Frosches erinnerte, und Hängebacken, die sich von den Wangenknochen nach unten zogen, als bestünden sie aus schmelzendem Wachs. Das weiße Haar war zu einem strammen Zopf geflochten, der in abwechselnd angeordneten Ringen aus Messing und schwarzem Eisen steckte; so weit Jean sehen konnte, bedeckten verschlungene, leicht verblasste Tätowierungen ihre Hände, die Unterarme und den Hals.
    Jean stellte den rechten Fuß vor den linken und verbeugte sich in einem Winkel von fünfundvierzig Grad, während er die linke Hand seitwärts ausstreckte und die rechte auf seinen Magen legte. Er wollte zu einer blumigen Rede ansetzen, als die Gildemeisterin Gallardine ihn beim Kragen packte und ins Haus zog.
    »Au! Madam, bitte! Gestatten Sie mir, dass ich mich vorstelle!«
    »Für einen Lehrling auf der Suche nach Anstellung sind Sie zu fett und zu gut angezogen«, erwiderte sie. »Also erwarten Sie irgendeine Dienstleistung von mir. Und bis Leute Ihres Schlages zur Sache kommen, dauert es eine Weile. Halten Sie also lieber den Mund.«

3
     
     
    In ihrem Haus roch es nach Öl, Schweiß, Steinmehl und erhitztem Metall. Das Innere bestand aus einem einzigen hohen Raum, und eine seltsamere Einrichtung hatte Jean in seinem ganzen Leben noch nicht gesehen. Die Wände zur Rechten und zur Linken verfügten über mannsgroße Bogenfenster, doch sonst wurde jeder Zoll eingenommen von einer Art Gerüst, das jede Menge hölzerner Regalbretter stützte, die überfüllt waren mit Werkzeug, Materialien und Schrott. An der Spitze des Gerüstes, auf einem provisorischen Boden aus Planken, entdeckte Jean eine Schlafstätte und ein Schreibpult, über dem zwei alchemische Lampen hingen. Leitern und Lederschnüre baumelten an mehreren Stellen herunter; Bücher, Schriftrollen und halbvolle, verkorkte Flaschen bedeckten den größten Teil des Fußbodens.
    »Wenn ich zu einem ungünstigen Zeitpunkt komme …«
    »Jeder Zeitpunkt ist ungünstig, Meister Störenfried. Höchstens ein Kunde, der eine wirklich interessante Arbeit in Auftrag geben will, kann daran etwas ändern. Also, was wollen Sie von mir?«
    »Gildemeisterin Gallardine, jeder, den ich um Auskunft ersuchte, versicherte mir, dass Sie die fähigste, feinsinnigste, am meisten imitierte Kunsthandwerkerin in ganz Tal Verrar …«
    »Hören Sie auf, mich mit Schmeicheleien zu umgarnen, mein Junge«, fiel die alte Frau ihm ins Wort und wedelte mit den Händen. »Sehen Sie sich um. Zahnräder und Hebel, Gewichte und Ketten. Man braucht keine schönen Worte, damit sie funktionieren - jedenfalls nicht bei mir.«
    »Wie Sie wünschen«, gab Jean nach, straffte die Schultern und fasste in seinen Rock.
    »Trotzdem würde ich es mir nie verzeihen, wenn ich Ihnen nicht eine kleine Aufmerksamkeit überreichte.«
    Aus einer Innentasche zog er ein schmales, in silberdurchwirktes

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