Sturm ueber roten Wassern
Tuch eingewickeltes Päckchen. Die akkurat gefalteten Zipfel des Stoffs steckten unter einem roten Wachssiegel, das in eine gewellte runde Scheibe aus Blattgold gepresst worden war.
Jeans Informanten hatten einstimmig Gallardines einzige menschliche Schwäche erwähnt: eine Vorliebe für Geschenke, die genauso ausgeprägt war wie ihre Abneigung gegen Schmeichelei und Störungen. Sie zog die Augenbrauen zusammen, brachte jedoch den Hauch eines erwartungsvollen Lächelns zuwege, als sie das Päckchen in ihre tätowierten Hände nahm.
»Nun ja«, sagte sie, »nun ja, es ist schon wichtig, dass man sich selbst treu bleibt …«
Sie brach das Siegel und faltete das silberne Tuch auseinander wie ein begieriges kleines Mädchen. Das Paket enthielt eine rechteckige Flasche mit Metallstöpsel, und in der Flasche befand sich eine milchweiße Flüssigkeit. Als sie das Etikett las, sog sie zischend den Atem ein.
»Ein Austershalin aus weißen Pflaumen«, flüsterte sie. »Bei den Zwölf Göttern. Mit wem haben Sie gesprochen?«
4
Kognakverschnitte waren Tal Verrars Spezialität. Edle Kognaks aus anderen Gegenden (in diesem Fall der unübertroffene Austershalin aus Emberlain) wurden vermischt mit einheimischen Likören, hergestellt aus seltenen alchemischen Früchten (und das absolut rarste Obst war die exquisite weiße Pflaume), auf Flaschen gezogen und bis zur Reife gelagert. Die so entstehenden aromatischen Liköre waren das Schmackhafteste, was man sich überhaupt vorstellen konnte. Die Flasche enthielt ungefähr zwei Gläser Weiße-Pflaumen-Austershalin und kostete fünfundvierzig Solari. »Mit ein paar gut unterrichteten Leuten«, erwiderte Jean, »die meinten, Sie wüssten ein bescheidenes Tröpfchen zu schätzen.«
»Das hier kann man wohl kaum bescheiden nennen, Meister …«
»De Ferra. Jerome de Ferra, zu Ihren Diensten.« »Ganz im Gegenteil, Meister de Ferra. Was soll ich für Sie tun?«
»Tja – wenn Sie gleich zur Sache kommen möchten, so muss ich gestehen, dass ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch gar nichts brauche. Zuerst hätte ich da ein paar … Fragen.«
»Zu welchem Thema?« »Tresore.«
Die Gildemeisterin Gallardine hielt ihren Kognakverschnitt im Arm wie ein neugeborenes Baby. »Tresore, Meister de Ferra? Welcher Art? Einfache, abschließbare Aufbewahrungsorte oder einbruchsichere Kammern mit mechanischen Verriegelungen?« »Ich hatte eher an Letzteres gedacht, Madam.« »Was wollen Sie denn verwahren?«
»Gar nichts«, entgegnete Jean. »Ich will etwas herausholen.« »Bekommen Sie Ihren Tresor nicht mehr auf? Benötigen Sie Hilfe bei der Entriegelung?«
»In der Tat, Madam. Es ist nämlich so …« »Sprechen Sie weiter, Meister de Ferra.«
Jean befeuchtete mit der Zunge seine Lippen und lächelte. »Mir kamen … nun ja … glaubhafte Gerüchte zu Ohren, die besagen, dass Sie nicht abgeneigt sind, die Art von Arbeit zu verrichten, die ich im Sinn habe.«
Sie fixierte ihn mit einem wissenden Blick. »Soll das heißen, dass der Tresor, zu dem Sie sich Zugang verschaffen wollen, nicht direkt Ihr eigener ist?« »Ä h … nicht direkt, nein.«
Sie wanderte auf und ab, wobei sie über Bücher, Flaschen und mechanische Gerätschaften steigen musste.
»Das Gesetz der Großen Gilde«, hob sie schließlich an, »verbietet jedem von uns, sich in die Arbeit eines anderen Handwerkers einzumischen, es sei denn, der Urheber dieses Produkts fordert uns dazu auf oder der Staat bedarf unserer Hilfe.« Sie machte eine kurze Pause. »Allerdings … wäre es nicht das erste Mal, dass gegen diese Regel verstoßen wird, indem man Ratschläge erteilt oder Pläne zur Ansicht herausgibt, wissen Sie. Dabei soll getestet werden, inwieweit ein Objekt tatsächlich den höchsten Sicherheitsansprüchen genügt. Diese Vorgehensweise dient dazu, neue Erkenntnisse zu gewinnen, von denen letztendlich unsere gesamte Zunft profitiert. Es ist eine Art gegenseitiger Kontrolle.«
»Ein Rat ist das Einzige, worum ich Sie bitte«, erklärte Jean. »Ich benötige nicht mal einen Mechaniker … sondern nur ein paar Tipps, wie ich einen Mechaniker ausrüsten muss.«
»Es gibt nur wenige Mitglieder meines Berufsstandes, die einen Mechaniker besser auszurüsten verstehen als ich. Doch ehe wir auf die Bezahlung zu sprechen kommen - wissen Sie, wer den Tresor konstruiert hat, mit dem Sie sich beschäftigen wollen?«
»Ja.«
»Und wie lautet der Name?« »Azura Gallardine.«
Die Gildemeisterin wich einen Schritt
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