Sturm ueber roten Wassern
wiederzusehen.«
Als sich für Locke und Jean die Türflügel öffneten, schwappte eine Welle aus Lärm, Hitze und Gerüchen über sie hinweg und in die Nacht hinein – die vertrauten Ausdünstungen der Dekadenz.
Die erste Etage war nur überfüllt, die zweite jedoch glich von einer Wand zur anderen einem Meer aus Fleisch und exquisiter Kleidung. Das Gedränge begann schon auf der Treppe, und Locke und Jean mussten sich mit Ellbogen und Drohungen einen Weg durch die Menge pflügen.
»Was in Perelandros Namen ist hier los?«, fragte Locke einen Mann, der gegen ihn gedrückt wurde. Der Mann wandte ihm sein Gesicht zu und grinste aufgeregt. »Das ist eine Käfigschau!«
Mitten auf der zweiten Etage stand ein Messingkäfig, der von der Decke heruntergelassen worden und in Fußbodenöffnungen eingerastet war; auf diese Weise bildete sich ein solider Kubus mit einer Seitenlänge von zwanzig Fuß. In dieser Nacht war der Käfig zusätzlich mit einem feinmaschigen Netz gesichert – nein, korrigierte sich Locke, es waren sogar zwei Netze, eines verkleidete die Innen-, das andere die Außenseiten. Eine glückliche Minderheit von Gästen beobachtete das Spektakel von erhöht stehenden Tischen aus, welche die Wände säumten; mindestens hundert Leute mussten sich mit Stehplätzen begnügen. Entgegen dem Uhrzeigersinn schoben sich Locke und Jean durch die Masse und versuchten, dem Käfig so nahe zu kommen, dass sie sehen konnten, worin die Schau bestand. Ein derart erregtes Stimmengewirr hatte Locke in diesen Wänden noch nicht gehört. Doch als sie sich dem Käfig näherten, merkte er plötzlich, dass es nicht nur die Menschen waren, die diesen Lärm verursachten.
Etwas von der Größe eines Sperlings schlug mit seinen Flügeln gegen das Netz und summte wütend, ein tiefes Brummen, das Locke einen Schauer instinktiver Angst über den Rücken jagte. »Das ist eine beschissene Stilettwespe«, flüsterte er Jean zu, der zur Bekräftigung heftig mit dem Kopf nickte.
Locke selbst war bis jetzt von einer Begegnung mit diesen Insekten verschont geblieben. Sie galten als Geißel einiger großer tropischer Inseln, die Tausende von Meilen entfernt im Osten lagen, weit hinter Jerem und Jeresh und den Ländern, die in den meisten Theriner Karten verzeichnet waren. Vor ein paar Jahren hatte Jean in einem seiner naturphilosophischen Bücher einen schauerlichen Bericht über diese Tiere gefunden und ihn den anderen Gentlemen-Ganoven vorgelesen, woraufhin sie nächtelang nicht schlafen konnten.
Die Insekten hatten ihren Namen aufgrund der Schilderungen erhalten, welche die wenigen Menschen, die ihren Stich überlebt hatten, später abgaben. Der Körper einer Stilettwespe wog so viel wie ein Singvogel, hatte eine grellrote Farbe, und der als Stachel geformte Hinterleib war so lang wie der Mittelfinger eines ausgewachsenen Mannes. In jedem der Theriner Stadtstaaten wurde der Besitz einer Stilettwespen Königin mit dem Tod bestraft; dadurch wollte man verhindern, dass diese kleinen Bestien jemals auf Theriner Boden heimisch wurden. Ihre Nester waren angeblich so groß wie Häuser.
Innerhalb des Käfigs wand und duckte sich ein junger Mann, nur leicht bekleidet mit einer Seidentunika, Baumwollhosen und kurzen Stiefeln. Als Waffen und Schutz dienten ihm lediglich Handschuhe aus dickem Leder; sie waren mit Armschützern verbunden, und er hielt die Hände vor sein Gesicht wie ein Boxer, der sich Deckung gibt. Mit Handschuhen wie diesen konnte man tatsächlich eine Stilettwespe totschlagen oder zerquetschen – aber man musste ungeheuer schnell und sich seiner Reaktionen sehr sicher sein.
Auf einem Tisch an der gegenüberliegenden Käfigseite stand ein wuchtiger hölzerner Schrank; die Vorderseite war in Dutzende von Zellen unterteilt, die mit einem Netz verschlossen wurden. Einige dieser Zellen waren offen, und in den übrigen steckte -dem giftigen Gesumm nach zu urteilen – ein ganzer Schwärm aufgeregter Stilettwespen, die nur darauf warteten, freigelassen zu werden. »Meister Kosta! Meister de Ferra!«
Der Ruf übertönte die lärmende Menge, war jedoch schwer zu orten. Locke musste sich mehrere Male umsehen, ehe er die Urheberin entdeckte – Maracosa Durenna, die ihm und Jean von ihrem Platz an einem der an der Wand stehenden Tische aus zuwinkte.
Ihr schwarzes Haar war wie ein Fächer über einen Kamm aus glänzendem Silber geschlungen, und sie paffte eine gebogene silberne Pfeife, die fast so lang war wie ihr Arm. An ihrem linken
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