Sturm ueber roten Wassern
von den Priori wünscht Sie auf der sechsten Etage zu sprechen. Eine unbedeutende Angelegenheit. Es geht um … Kartentricks. Die betreffende Person sagte, Sie wüssten schon, was gemeint sei.«
»Madam«, erwiderte Locke, »ich … äh … freue mich schon auf diese Unterredung.
Könnten Sie bitte ausrichten, dass ich mich in Kürze auf die sechste Etage begeben werde?«
»Ich bringe Sie lieber selbst dorthin«, entgegnete sie mit einem halben Lächeln, das die zerstörte Seite ihres Gesichts nicht erreichte, »damit es schneller geht.«
Locke lächelte, als könnte er sich nichts Besseres vorstellen, wandte sich wieder an Madam Durenna und spreizte die Finger.
»Sie bewegen sich wirklich in interessanten Kreisen, Meister Kosta. Und nun sputen Sie sich; Jerome kann auf Ihren Wetteinsatz achten und ein Glas mit mir trinken.«
»Ein in der Tat unverhofftes Vergnügen«, meinte Jean und winkte schon einen Kellner herbei, um sich etwas zu bestellen.
Selendri verlor keine Sekunde mehr; sie machte kehrt und tauchte in die Menge ein, wobei sie die Treppe am hinteren Ende des runden Saales ansteuerte. Sie bewegte sich schnell, die Messingprothese in ihrer gesunden Hand haltend, als trage sie eine Opfergabe vor sich her, und beinahe wie durch ein Wunder teilten sich die Massen, um ihr einen freien Durchgang zu ermöglichen. Hastig folgte Locke ihr, bemüht, nicht durch die sich eilig wieder schließenden Reihen von Selendri getrennt zu werden; direkt hinter ihm strömten die Leute wieder zusammen, wie eine Kolonie aus wild durcheinander krabbelnden Wesen, deren Treiben eine kurze Störung erfahren hatte. Gläser klirrten, Rauchfetzen kreisten in der Luft, und Wespen brummten.
Es ging die Treppe hinauf in den dritten Stock; abermals wichen die eleganten Gäste vor Requins Majordomus zurück. An der Südseite der dritten Etage gab es einen Servicebereich, in dem Bedienstete eifrig an mit Flaschen gefüllten Regalen herumhantierten. Am Ende des Serviceraums befand sich eine schmale Holztür mit einer Nische daneben. Selendri schob ihre künstliche Hand in diese Vertiefung, die Tür öffnete sich, und dahinter lag eine dunkle Kammer, kaum größer als ein Sarg. Sie trat als Erste hinein, stellte sich mit dem Rücken gegen die Wand dieses Kabuffs und winkte Locke zu sich.
»Der Fahrstuhl«, erklärte sie. »Viel praktischer als die überfüllten Treppen.« Es wurde sehr eng in diesem Gelass; Jean hätte nicht gleichzeitig mit Selendri in diese Kabine hineingepasst. Locke quetschte sich zwischen die Wand und Selendris linke Seite, und er konnte das schwere Gewicht ihrer Messinghand an seinem Rücken spüren. Mit der gesunden Hand fasste die Hausdame an ihm vorbei und schloss die Fahrstuhltür. Dann waren sie in der Wärme und Dunkelheit eingekapselt, und Locke stiegen die Ausdünstungen in die Nase, die von ihnen beiden ausgingen – sein frischer Schweiß und ihr weiblicher Moschusduft, der Geruch, der ihren Haaren anhaftete und an den Rauch eines brennenden Kiefernscheits erinnerte. Harzig, prickelnd, sogar ziemlich angenehm.
»Nun«, begann er mit leiser Stimme, »das ist der Ort, an dem mir ein Unfall passieren würde, stimmt’s? Wenn ich verunglücken sollte.«
»Es wäre kein Unfall, Meister Kosta. Aber ich kann Sie beruhigen, der Weg nach oben ist nicht der gefährliche.«
Sie rührte sich, und er hörte, wie an der Wand rechts von ihr ein Mechanismus klickte. Im nächsten Moment zitterten die Wände des Fahrstuhls, und über ihnen ertönte ein gedämpftes Knarzen.
»Sie mögen mich nicht«, stellte Locke spontan fest. Eine kurze Stille trat ein. »Ich habe schon viele Verräter kennengelernt«, erwiderte sie schließlich. »Aber vermutlich keinen, der so aalglatt war wie Sie.«
»Nur jemand, der einen Verrat begeht, ist ein Verräter«, erklärte Locke und gab vor, gekränkt zu sein. »Ich will lediglich Vergeltung für ein Unrecht, das mir angetan wurde.«
»Um Ausreden sind Sie wohl nie verlegen«, wisperte sie. »Mir scheint, ich habe Sie unabsichtlich beleidigt.« »Nennen Sie es, wie Sie wollen.«
Wütend konzentrierte sich Locke auf den Tonfall seiner nächsten Worte. In der Dunkelheit, ohne dass sie ihm ins Gesicht sehen konnte, musste er sich nur auf seine Stimme verlassen, wenn ihm normalerweise seine Mimik und seine Gesten zu Hilfe kamen. Vielleicht spielte er jetzt die wichtigste Rolle seines Lebens. Wie ein Alchemist vermischte er lange eingeübte Tricks zu der gewünschten emotionalen
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