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Sturm über Sylt

Sturm über Sylt

Titel: Sturm über Sylt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Pauly
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leise. »Wir dürfen Insa nicht verärgern.«
    Sie begannen mit Stimmübungen, die Reik bereitwillig nachahmte, sangen sich ein, ignorierten den Blick, den Leutnant Fritz durch die Tür warf, und Insas scharf vorgetragene Bitte, diesmalihren Kochkünsten den Vorzug geben. Als sie das erste Duett sangen, gelang es Aletta bereits wieder, zu vergessen. Ludwig stand vor ihr auf, lächelte sie an, machte ihr Mut, sagte ihr, dass ihn nichts so bewege wie ihr Gesang ...
    In diesem Augenblick hörte sie die Dielen über sich ächzen. Leise nur, aber sie kannte jedes Geräusch in diesem Haus. Sie wusste, in welchen Ecken der Wind stöhnte, durch welche Fenster der Sturm heulte, welche der Holzdielen in der ersten Etage knarrten und welche nur dann zu hören waren, wenn jemand von einer Tür zur Treppe huschte. In den Jahren, in denen sie sich nachts aus dem Haus hatte schleichen müssen, um zum Friedhof zu gehen, wo Dirk Stobart auf sie wartete, hatte sie sich jeden Ton dieses Hauses eingeprägt. Sie kannte das Geräusch jeder einzelnen Treppenstufe und wusste, welche sie gefahrlos mit dem ganzen Fuß betreten konnte, welche sie niemals berühren durfte, wenn sie ungehört bleiben wollte, und welche nur an einer bestimmten Stelle, außen, innen oder an der vorderen Kante.
    Sie hatte Insas Schritte gehört, als sie in die erste Etage hochgestiegen war, und wusste auch, dass sie nicht in ihr Zimmer gegangen war, sondern die Tür geöffnet hatte, hinter der die Stiege in den Speicher führte. Das Holz vor dieser Tür war weniger abgenutzt, es knurrte nicht, sondern kicherte leise und hell wie ein junges Käuzchen. Und sie hatte Insa auch zurückkommen hören und das Öffnen und Schließen der Küchentür vernommen. Seit sie wusste, dass auf dem Speicher jemand versteckt wurde, vergewisserte sie sich bei allem, was sie hörte, ob etwas auf sie zukam, was sie verraten konnte.
    Jetzt war die Gefahr nahe. Von oben war sie heruntergekommen und verharrte nun auf der Treppe. Auf der dritten Stufe von unten! Sönke? Hatte er sein Versteck verlassen? Wie konnte er sich einer solchen Gefahr aussetzen? Und die Menschen, die ihn zu retten versuchten, gleich mit!
    Erschrocken wandte sie sich Reik zu und sagte: »Lass unsnoch mal ›So wahr die Sonne scheinet‹ probieren. Das war eben zu schnell. Wenn der Pianist sich streng an die Noten hält ...«
    Reik sah sie erstaunt an, stimmte aber bereitwillig zu. Er sang gut! Seine Stimme hatte eine wundervolle Wärme, eine schöne Tiefe, dazu eine Höhe, mit der er gut umgehen konnte. In diesem Augenblick, in dem sie sang und gleichzeitig ins Haus lauschte, hörte sie noch genauer als vorher, wie groß Reiks Stimmvolumen war. Sie selbst sang schlechter als sonst, das hörte sie ebenfalls. Sie huschte über die Töne, hielt die Höhe nicht lange genug, atmete zu hastig und verlor am Ende sogar die Stütze. Reik sah sie verwundert an, sagte aber nichts. Doch sie spürte seine Aufmerksamkeit und Anspannung, als merkte auch er, dass sich eine Gefahr von der ersten Etage ins Erdgeschoss bewegte.
    Kurz darauf hielt sie es nicht mehr aus. Sie lief zur Tür, riss sie auf und rannte in die Diele. Ein mehrfaches Knarren folgte, und acht Schläge, von denen der dritte und vierte hohl klangen. Sie bewiesen ihr, dass jemand über die Treppe nach oben geflohen war.
    »Sönke!«, zischte sie.
    Aber schon schrie die vorletzte Dielenbohle auf, die gut geölte Tür schloss sich, die Schritte auf der Stiege waren kaum zu hören, doch Aletta spürte sie in ihrem Herzschlag, an ihrer Schläfe, in ihrem stoßweisen Atmen.
    Dass Hauptmann Hütten hinter ihr stand, bemerkte sie erst, als er sagte: »Ist da oben jemand?«
    Aletta fuhr herum. »Wie kommen Sie darauf?«
    »Ich dachte, ich hätte etwas gehört.«
    »Unsinn! Da oben ist niemand! Ich habe nur etwas vergessen. Ich hole es schnell.«
    Aletta lief die Treppe hoch. Auf der oberen Stufe hörte sie die Küchentür klappen. Der Hauptmann war zu seiner Gemüsesuppe zurückgekehrt. Schwer atmend stand sie da und zwang sich, Sönke nicht zu folgen. Sie würde ihm später die Meinung sagen. Die Speichertür musste abgeschlossen werden, er musste unbedingtdaran gehindert werden, ins Haus zu kommen! Sönke war nicht intelligent genug, um die Gefahr zu erkennen, in die er sie alle brachte. Zum Glück war diesmal alles gutgegangen. So etwas durfte nie wieder passieren.
    Tief atmete sie durch und drehte sich um. Beinahe wäre sie gestolpert, als sie die Treppe hinabgehen

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