Sturm über Sylt
an die Hauswand gedrängt, und hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht das rechte Bein.
Aletta kniete sich neben ihn. »Wie kommst du hierher?«
Insa antwortete an seiner Stelle: »Er sagt, er wollte frische Luft schöpfen und das Meer sehen.«
Aletta blickte zur Dachluke hoch. »Er ist da oben rausgeklettert? Übers Dach?«
»Durch die Tür konnte er ja nicht. Die hatten wir abgeschlossen.«
Sönke hatte geweint, als er merkte, was Insa und Aletta vorhatten, aber sie waren unerbittlich gewesen. »Du wirst nicht noch einmal den Speicher verlassen! Du bringst uns alle in Teufels Küche!« Immer wieder hatte Insa ihm vorgehalten, dass sie durch seine Schuld nun einen Mitwisser hatten. »Ein Soldat! Wenn der uns verrät, ist es aus!«
Dass Reik sie niemals verraten würde, dass sie diesbezüglichohne Sorge war, erwähnte sie natürlich nicht. Sönke erfuhr auch nicht, wie schwer es für Insa war, dass sie ausgerechnet auf Reik vertrauen musste, der nichts mit ihrem Leben zu tun haben sollte und der nun ein weiteres Stück herangerückt war. Viel zu nah! Aber jetzt konnte sie ihn nie wieder zurückstoßen, sie musste seine Hilfe annehmen, ob sie wollte oder nicht.
»Niemand hätte etwas erfahren dürfen. Niemand! Wie konntest du den Speicher verlassen!«
Sönke hatte sich damit gerechtfertigt, dass der Gesang ihn angelockt, dass er noch nie so etwas Schönes gehört habe und diesem Gesang einfach habe näher kommen müssen.
»Er wollte anschließend über die Leiter wieder zurück«, erklärte Insa, »und sie dann in den Garten fallen lassen, damit sie niemandem auffällt.«
»Was machen wir jetzt?« Aletta betrachtete Sönke kopfschüttelnd, der das Gesicht in den Armen vergraben hatte und wimmerte. Leise zwar, aber für die morgendliche Stille zu laut.
»Er muss ins Haus«, zischte Insa, »bevor die Nachbarschaft alarmiert wird.« Sie griffen unter seine Achseln und halfen ihm hoch. »Er muss auf den Speicher, ehe Hütten und Fritz aufwachen.«
Aletta warf einen Blick auf Sönkes Bein, sah die blutverkrustete Hose, stellte aber schnell fest, dass die schwerste Verletzung von anderer Art war. Augenscheinlich hatte er sich das Bein gebrochen. Sein Fuß schaute in einem unnatürlichen Winkel aus dem Hosenbein heraus, und als er den unvorsichtigen Versuch machte, den Fuß aufzusetzen, stieß er einen Schrei aus und klammerte sich an Aletta, um nicht umzufallen.
»Still!«, zischte Insa. »Oder willst du heute noch erschossen werden?«
Sönkes Gesicht wurde bleich, er lehnte sich an die Hauswand und schloss die Augen. Tränen rollten über seine Wangen, seine Lippen bebten. Aber er gab keinen Laut mehr von sich. Sein Kehlkopf zitterte auf und ab, als schlucke er jeden Schmerzensschreihinunter. Langsam rutschte er an der Hauswand hinab, bis er wieder auf dem Boden saß.
Aletta schob vorsichtig sein Hosenbein hoch, was Sönke sich mit zusammengebissenen Zähnen gefallen ließ. Die Wunde über dem Schienbein hatte längst aufgehört zu bluten, er war wohl schon vor Stunden vom Dach gefallen. Die Bruchstelle war leicht zu erkennen. Anscheinend ein glatter Bruch des Schienbeins.
»Er muss ins Haus«, flüsterte Aletta. »Sofort!«
Wieder griffen sie unter Sönkes Achseln, während er versuchte, auf seinem gesunden Bein in die Höhe zu kommen. Die geringste Bewegung entlockte ihm ein Stöhnen. Als er endlich wieder aufrecht stand, an sich herabsah und an dem nach außen gedrehten Fuß bestätigt bekam, was mit seinem Bein geschehen war, begann er zu jammern. »Nein, nein!«
Aletta brachte ihn mit einem wütenden Zischen zur Ruhe und Insa mit einer so energischen Handbewegung, dass Sönke erschrak, ins Wanken geriet und mit dem Fuß des gebrochenen Beins die Hauswand berührte. Zwar gab er sich Mühe, den Schmerz zu verbeißen, aber es gelang ihm nicht. Sein Wimmern drang durch seine zusammengepressten Lippen. So durchdringend, dass Aletta fürchtete, die ganze Nachbarschaft könne auf sie aufmerksam werden.
Dass im Garten der Oselichs erneut die Tür des Holzhäuschens knarrte und Schritte durchs Gras raschelten, hatten sie nicht bemerkt. Als die Stimme ertönte, fuhren sie erschrocken zusammen, und Sönke erstarrte, wurde noch bleicher und schloss die Augen, als wollte er nicht sehen, wie er entdeckt, am Kragen gepackt und vor ein Exekutionskommando geschleppt wurde.
»Frau Lornsen? Ist was nicht in Ordnung?«
Die Stimme kam vom Zaun, der das Grundstück der Lornsens von dem der Oselichs trennte.
»Frau
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