Sturm über Sylt
Sönkes Leben in den letzten Jahren verlaufen war. Hatte Dirk ihn zur Liebe gezwungen, oder war er gar missbraucht worden? Hatte der Ältere den Jüngeren verführt? War daraus Liebe geworden? Oder war Sönke immer wieder aufs Neue gezwungen worden? Sie nahm sich vor, mit ihm darüber zu sprechen. Er musste sich von Dirk lösen. Wenn er auf dem Festland in Sicherheit war, durfte Dirk keinen Einfluss mehr auf ihn haben. Sönke musste ein ganz neues Leben beginnen.
Die Tür der Zimmerei öffnete sich, barsche Stimmen klangen herüber. Zwei Männer, Polizisten in ihren dunkelblauen Uniformen,traten heraus, zwischen ihnen Dirk Stobart. Jeder hielt einen Arm, so fest, als befürchteten sie, dass Dirk sich losreißen und flüchten könnte.
Aletta hörte auf zu treten und ließ das Rad rollen. Es wurde kalt in ihr, eiskalt. So gefühllos wie erstarrte Fingerspitzen war ihr Inneres. Es war also geschehen! So viele Jahre später würde man Dirk zur Rechenschaft ziehen! Wofür? Etwa für ein Verbrechen, das er nicht begangen hatte?
Nun stürzte Emme aus dem Haus. »Lasst meinen Mann los!«
Sie hängte sich an den Arm des einen Polizisten, der sie ärgerlich abschüttelte, während der zweite dafür sorgte, dass Dirk sich ruhig verhielt.
Aber Emme ließ nicht locker. »Ihr könnt ihn nicht einfach mitnehmen. Er ist unschuldig! Er hat seinen Bruder nicht umgebracht. So was würde er niemals tun!«
Nun erschien ihr Sohn in der Eingangstür. Ängstlich und verstört drückte er sich in den Türrahmen und starrte mit großen Augen auf seinen Vater, der mit gesenktem Kopf dastand, während seine Mutter ihn verzweifelt verteidigte. »Lasst ihn los!«
Aletta stieg vom Rad, schob es an den Zaun und ging zu dem Jungen. Aber der Kleine wollte sich von einer fremden Frau nicht trösten lassen. Ängstlich sah er ihr entgegen, und als sie ihn ansprach, drehte er sich um und floh ins Innere des Hauses.
»Im Familiengrab der Mügges ist ein Toter gefunden worden«, erklärte der eine der beiden Polizisten, und man merkte, dass er es Emme nicht zum ersten Mal auseinandersetzte. »Es handelt sich um deinen Schwager Kai Stobart. Der ist seit vielen Jahren verschwunden.«
»Was hat mein Mann damit zu tun?«, schrie Emme.
»Er ist erschlagen worden«, erklärte der Polizist ruhig. »Das sieht jeder. Soll ich dir den Schädel zeigen?«
»Mein Mann war das nicht!«
»Er hat als Einziger ein Motiv.«
»Vielleicht ist der Tote gar nicht sein Bruder! Dirk hat mir erzählt,dass Kai immer wegwollte. Pfarrer werden, das war sein Wunsch! Nicht Zimmermeister!«
Nun wurde der andere Polizist ungeduldig. »Lass uns weiter, Emme! Das hilft doch alles nichts. Kais Sachen sind auch in dem Grab gefunden worden, das ist Beweis genug.«
Und der andere ergänzte: »Dirk wollte die Zimmerei. Er hat früher oft darüber geklagt, dass Kai als Ältester den Betrieb erben sollte, obwohl er ihn nicht wollte, und er ihn gern hätte, aber nicht bekommen könne. Dirk hat seinen Bruder verscharrt und seine Sachen gleich mit, damit jeder glaubte, Kai wäre freiwillig gegangen. Wir brauchen nur herauszufinden, wann die Mügges ihre letzte Beerdigung hatten, dann wissen wir, wann Kai Stobart gestorben ist.«
Die beiden wollten weitergehen, zerrten Dirk voran, der nun, da er so vehement verteidigt wurde, den Versuch machte, stehen zu bleiben und sich den Griffen der Polizisten zu entwinden.
»Das kann auch ein anderer gewesen sein«, schrie Emme verzweifelt. »Wenn Kai aufs Festland gehen wollte, hatte er sicherlich Geld dabei. Man hat es ihm abgenommen, ihn erschlagen und in Mügges Grab geworfen. Und alles andere dazu!«
Aletta merkte, dass die Polizisten unsicher wurden. »So jemand hätte auch den Siegelring genommen und später zu Geld gemacht.«
Plötzlich sah Dirk auf, als hätte er Alettas Anwesenheit gespürt. Er blickte nicht Emme an, die flehentlich nach ihm griff, als wollte sie ihn festhalten, nein, er sah geradewegs in Alettas Gesicht. Und in seinen Augen erschien eine Bitte ...
Aletta jagte die Steinmannstraße hinunter, Emmes enttäuschten Blick im Rücken. Aber sie konnte sich nicht um Emme kümmern, sich nicht ihre Sorgen anhören, nicht gemeinsam mit ihr darüber klagen, dass Dirk Unrecht getan wurde, oder darüber nachdenken, wie er freizubekommen war. Dass sie nicht einmal erklären konnte, warum sie keine Zeit für Emme hatte, tat weh.Aber Insa ging jetzt vor, und dazu Sönke, der in seinen Schmerzen womöglich jede Vorsicht vergaß. Es
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