Sturm über Sylt
sie zur gegenüberliegenden Tür huschte, um das Zimmer so schnell wie möglich zu verlassen. Dann aber stockte sie, fuhr zurück, gab einen Laut von sich, der womöglich nebenan gehört wurde, den sie trotzdem nicht unterdrücken konnte. Erst jetzt stellte sie fest, welches Zimmer sie betreten hatte. Tommas Krankenzimmer! Jorits Frau lag mit weit aufgerissenen Augen in ihrem Bett und starrte sie an. Zum ersten Mal sah Aletta den Schlauch, der aus ihrem Hals herausschaute.
»Entschuldigung«, flüsterte sie sinnlos. Dann lief sie zur Tür, klinkte sie leise auf und huschte auf den Flur, ohne sich noch einmal umzusehen. Augenblicke später stand sie erneut in Jorits Wohnzimmer. Ihre Hand lag auf der Tasche ihrer Schürze und hielt das Medizinfläschchen fest, das dort neben der Aspirinschachtel steckte.
Als Jorit eintrat, warf sie sich ihm entgegen. »Das hätten wir nicht tun dürfen.«
Er fing sie auf, schloss die Arme um sie und legte das Gesicht auf ihr Haar. »Das war knapp«, murmelte er. »Aber es ist alles gutgegangen.«
Sie wollte sich von ihm lösen, ihm ins Gesicht sehen, Jorit ließ es jedoch nicht zu. Er hielt sie so fest, als wollte er sie nie wieder freigeben. So flüsterte Aletta an seinen Hals: »Was ist, wenn dein Schwiegervater etwas merkt? Sicherlich führt er Buch über seine Medikamente.«
Nun gab Jorit sie doch frei. »Solange er nicht weiß, wer das Opium genommen hat, spielt das keine Rolle.«
»Es hat sich längst herumgesprochen, dass dein Schwiegervater überall bereitwillig hilft. Und dass er auch Medikamente kostenlos herausgibt, wenn einer nicht zahlen kann.«
»Ja, ja«, gab Jorit nervös zurück. »Er hat genug mitgebracht.«
»Wenn ihm was gestohlen wird«, fuhr Aletta fort, »weiß er, dass es um jemanden geht, für den man nicht bitten kann. Hoffentlich kommt er nicht auf die Idee, dass das Opium für einen Deserteur bestimmt ist. Du hast gesagt, der Oberleutnant sucht Sönke.«
»Und wenn schon. Wenn keiner weiß, wo er versteckt wird, kann nichts passieren. Ihr seid auf der sicheren Seite. Der Oberleutnant sieht sich vor allem in den Häusern um, in denen Menschen wohnen, die Kontakt zu Sönke hatten. Für euch war er ein Fremder.«
»Hoffentlich hast du recht.« Aletta blickte zur Tür und dann in Jorits Gesicht, der sich bemühte, die Sorgen nicht zu zeigen. »Wie komme ich jetzt wieder aus dem Haus?«
»Durch die frühere Speisekammer«, antwortete Jorit und nahm Alettas Hand. »Sie hat eine Stiege, die direkt in den Hof führt. Dort wird dich niemand sehen.«
Insa sah sie so vorwurfsvoll an, als wollte Aletta sich heimlich davonschleichen, um ihre Schwester mit all den Problemen alleinzulassen.
»Mit welcher Begründung sollte ich der Generalprobe fernbleiben?«
Dass sie Angst davor hatte, in dieses Grab zu sehen, in dem vor zehn Jahren Kai Stobart verscharrt worden war, tat dabei nichts zur Sache.
Insa nickte mürrisch. »Geh nur. Dann muss Sönke eben allein bleiben.«
»Er schläft jetzt.«
»Hoffentlich wacht er überhaupt wieder auf.«
»Das Aspirin ist nicht gefährlich.«
»Aber ob es hilft? Was ist, wenn du Sönke ganz umsonst verraten hast?«
Aletta holte das Opium-Fläschchen hervor und stellte es vor Insa hin. »Das hilft auf jeden Fall.«
Insa starrte die dunkelbraune Flasche an, wollte sie ergreifen, zuckte aber zurück, als fürchtete sie sich davor. »Was ist das?«
»Opium. Ein sehr starkes Schmerzmittel. Das hilft auf jeden Fall.«
»Warum geben wir es ihm nicht gleich?«
»Wir müssen vorsichtig sein. Bei Überdosierung droht Atemlähmung.«
»Man kann auch süchtig davon werden«, sagte Insa.
»Wir müssen eben vorsichtig damit umgehen«, antwortete Aletta. »Er muss ruhig werden. Nur so viel darf er bekommen. Wir müssen aufpassen, dass er den Bezug zur Realität nicht verliert. Sönke darf nicht in Rauschzustände geraten.«
»Du machst aus unserem Haus eine Opiumhöhle?«
»Insa, warum verstehst du mich nicht? Ich habe doch alles nur getan, um dir zu helfen. Ich war es nicht, die einen Deserteur ins Haus geholt hat.«
»Ich verstehe dich!« Eiskalt kam diese Antwort zurück. »Du kannst nicht schweigen. Du hältst dich nicht an deine Versprechen. Du machst einfach, was du willst. Anscheinend hast du vergessen, dass du nicht mehr die Operndiva bist. Hier hast du dich an Regeln zu halten, die in deinem früheren Leben wohl nicht gegolten haben. Ich hoffe, dass du bald wieder in dieses Leben zurückkehren kannst. Du bringst nur
Weitere Kostenlose Bücher